Erinnerungen!

Die Idee, Erinnerungen niederzuschreiben und für die Nachwelt festzuhalten, ist nicht neu.

Wir möchten deshalb an die Worte von Peter Wirtz anknüpfen, mit denen er seine Aufzeichnung „Scheev Höttche – Leev Höttche“ einleitete:

Lirum, Larum Löffelspiel,
Zum Lachen, zum Weinen, zum Lernen nicht viel.
Lirum, Larum 1 – 2 – 3 –
für jeden ist etwas dabei.
Das waren mal unsere ersten Kindergeschichten
und daran will ich heute anknüpfen.
Was einst in Schevenhütt geschah,
zeigt hier „Laterna Magica.“
ob geschehen oder gehört,
ich hoff‘ es hat dich nicht gestört.
Es ist die Wahrheit ganz unverblümt,
für Scherze ist unser Dorf berühmt.
Auch werden hier manchmal Dinge berichtet,
fürwahr sie sind zum Teil erdichtet.
Und ist unser Ort auch noch so klein,

wenn’s nicht passiert, es könnt doch sein.
Wenn’s dich kränkt, ist’s auch keine Pleite,
dann leg das Heft einfach zur Seite.

Ich habe mir vorgenommen, etwas zu tun, Anekdötchen und Geschichten von Schevenhütte festzuhalten, damit sie nicht verloren gehen.
Früher haben wir gefragt. Möndesen oder Schwane Will, die wußten Bescheid.

Dann kam schon die nächste Generation: Der Bernhard Drüg, Schwane Köbes, Willi Weber, Hans Stiel und andere aus der Altersklasse.
Heute sind wir schon „die Alten“ die befragt werden.
Halten wir’s doch fest.

 

Unser Dank gilt allen, die durch ihr Wirken Schevenhütte unvergessen machen.

Erlebt, gehört und aufgeschrieben (von Maria Strauch)
  1. Februar 2001

Ein herrlicher Morgen, zehn Zentimeter Neuschnee haben unser Dorf in ein Wintermärchen verwandelt. Die Häuser haben weiße Dächer, besonders hübsch sehen die kleinen Türmchen auf dem Kirchturm aus. Bäume und Sträucher voller Schnee, sogar die Zaunpfähle tragen weiße Hüte.

So muss es wohl auch Silvester 1919 am Hochzeitstag meiner Eltern ausgesehen haben. Nach der kirchlichen Trauung gab es ein schönes Fest. Tante Lenchen, die ältere Schwester meiner Mutter, eine tüchtige Köchin, hatte das Hochzeitsmahl bereitet. Einige Tage vorher hatte der Dorfpolizist nach dem schwarz geschlachteten Schwein geforscht, ohne es zu finden. Bei der Hausdurchsuchung hatte meine Großmutter ihm bereitwillig die Küchentür aufgehalten und sich mit ihren breiten Röcken daneben gestellt, denn das Schwein lag in einem Bottich hinter der Tür.

Fünf Geschwister meiner Mutter waren noch unverheiratet, die Tanten Mariechen und Billa und die Onkel Hein, Josef und Peter.

Es war Nachkriegs- und Inflationszeit und für Geld und gute Worte kaum etwas zu haben. Ein Brot kostete bis zu 2 Billionen Mark.

Mein Großvater fuhr zu der Zeit noch mit dem Pferdefuhrwerk dreimal die Woche nach Köln, um die Bäcker mit Holz zu beliefern, damit die überhaupt backen konnten. Einen Tag hin, am nächsten Tag zurück. Da fiel schon mal ein Brot ab.

Die Hochzeitsfeier wurde von den Schwestern, die sich einmalig gut verstanden, arrangiert. Die Mutter, also meine Großmutter, hatte ganz energisch gesagt: „Ihr könnt machen was ihr wollt, nur Schulden werden keine gemacht.“

Das Brautkleid hatte meine Mutter, eine gelernte Näherin, selbst geschneidert. Dazu trug sie schwere, hohe, braune Schuhe, von einem Schuster handgemacht. Nach der Hochzeit sollten sie noch genagelt werden, was ihr gar nicht gefiel. Das Leder stammte von einem selbst geschlachteten Rind und war in der Lederfabrik Eschweiler gegerbt worden. Sie hat versucht, mit dem Brautkleid die Schuhe zu verdecken.

Am Abend brach das Brautpaar auf, um nach Hamich zu gehen, etwa drei Kilometer weit. Dort hatten sie sich eine bescheidene Wohnung im Hause Stüttgen, Gaststätte, Kolonialwaren und Post, eingerichtet. Sie waren kaum unterwegs, da brach ein schweres Gewitter los. Als sie ihr neues Heim erreichten, hatten sie keinen Faden trocken mehr am Leibe, mit Kesseln hatte es geregnet und gehagelt. Sie wären sehr glücklich gewesen, auch wenn sie nur das Nötigste hatten.

Mein Vater hatte vor dem 1.Weltkrieg die Bergschule besucht und sollte genau wie sein Bruder Andres, der im Krieg gefallen ist, Steiger werden. Bevor er das Praktikum machen konnte, musste er seinen Wehrdienst leisten. Darüber brach der Krieg 1914 aus. Er diente auf dem Linienschiff Oldenburg, als Oberheizer zur See, bis er an Bord eine Musikkapelle gründete und mit vier Matrosen abends in der Offiziersmesse aufspielte. Auf diesem Schiff hat er auch die Skagerrakschlacht erlebt, von der er manchmal erzählte. Eines Tages kam ein Funkspruch: Oberheizer zur See Herzog von Bord. Ohne es zu wissen, war mein Vater von einem ehemaligen Schulfreund, der einen hohen Dienstgrad hatte, reklamiert worden. Nun kam er nach Brügge in Belgien, wo er das Morsen lernte und bis Kriegsende als Funker tätig war.

Immer, wenn die Heide blühte, hatte er Heimaturlaub und meine Mutter wurde beneidet von ihren Freundinnen um ihren Bräutigam in der schicken Matrosenuniform, der fast täglich Liebesbriefe und Karten schickte, ganze Serien, vor allem mit Schiffen – in einer einmalig schönen Schrift. Leider gingen im Krieg alle Fotos verloren.

Aus finanziellen Gründen konnte er leider seine Ausbildung nicht beenden. Er ging aber doch zum Bergbau, zur Grube Reserve nach Eschweiler, und war dafür zuständig, dass die Bergleute in und aus dem Schacht fahren konnten. Spurlatten mussten ausgetauscht werden, eine sehr gefährliche und verantwortungsvolle Tätigkeit, die auch nur nachts gemacht werden konnte, damit der Förderkorb auf 700m in die Tiefe ging. Später war er dann als Wiegemeister oberirdisch – übertage, wie man das nannte.

Mein Vater war ein sehr begabter Musiker, der Geige, Tenorhorn und Bassgeige spielte. Neben seinem Beruf hatte er auch immer wieder Schüler, denen er das Violinespielen beibrachte, außerdem war er in einer Musikkapelle aus Hastenrath. Bei den Festen am Wochenende blies er bei den Festzügen das Tenorhorn und bei den Bällen am Abend spielte er die erste Geige.

Am 23. Oktober 1920 wurde ich als Wunschkind geboren. Die Hebamme musste aus dem Nachbardorf Gressenich geholt werden, die dann noch gerade rechtzeitig mit dem Fahrrad ankam.

Als ich in der Wiege lag, kam Tante Lenchen „Kindchenkucken“ wie man es damals nannte und sagte: jetzt will ich auch ein Kind haben. (Der Arzt hatte abgeraten, weil sie mal eine Nierengeschichte hatte). Neun Monate später wurde Maria Sous, die nun in Playa de Ingles auf Gran Canaria ihren Lebensabend verbringt, geboren. Sie war immer wie eine Schwester für mich.

Gerne denke ich an meine Kinderzeit zurück. Meine Mutter war eine frohe Frau, die oft bei der Arbeit sang, sie hatte eine schöne Stimme. Ich sehe sie an der Nähmaschine, wo sie auch noch für Kunden nähte. Am 29. Juli 1924 schickte man mich mit einem Zettel und einer Kanne Milch holen. Ahnungslos habe ich Mensch ärgere dich nicht gespielt, als ich wieder zu Hause war, hatte ich ein Schwesterchen und war unglücklich, weil ich den Klapperstorch nicht gesehen hatte.

Schöne Erinnerungen habe ich an Sankt Martin und Nikolaus. Ab Mitte November wurde abends bei Kerzenschein gesungen. In der ersten Woche tat sich noch nichts, da war der Nikolaus noch nicht unterwegs. Wir ließen die Tür immer einen Spalt offen, damit er uns auch finden sollte. Der Schreck und die Freude waren groß, wenn dann plötzlich Äpfel oder Nüsse ins Zimmer rollten. In der Nachbarschaft wohnte Willi (mein späterer Mann). Seine Mutter sagte: geh und wirf den Kindern die Nüsse durch die Tür, der Nikolaus ist ein alter Mann, der die Treppe nicht so gut steigen kann. Wir wohnten auf der ersten Etage. Einmal hatte ich mir eine Puppe gewünscht. Als am 5.Dezember der Nikolaus persönlich kam, habe ich ihn auf Drängen meiner Mutter gefragt (ich war sehr ängstlich), ob ich die Puppe bekommen würde. Er antwortete mit tiefer Stimme: „Du bekommst eine Puppe, so eine große“, und er zeigte mit den Händen, wie groß sie war. Am anderen Morgen war die Puppe wirklich da. Auf ihrem Bauch lag ein Zettel: Ich heiße Marianne. Damit war die Diskussion beendet, ich hätte sie gerne Ursel genannt. Desto trotz ich habe Marianne sehr geliebt.

Im ersten Schuljahr habe ich mir vom Nikolaus ein kleines Auto gewünscht, damit wir, die Freundinnen wollte ich selbstverständlich mitnehmen, in die etwa drei Kilometer entfernte Schule fahren konnten. Aber er hat mir einen Brief geschrieben: „Liebe Maria, ich würde dir gerne ein Auto mitbringen, aber es ist zu teuer, es kostet 100,- Mark“. Dafür hatte ich natürlich Verständnis, das war wirklich zu teuer. Der Nikolaus kam auch persönlich mit Knecht Ruprecht in die Schule. Ein richtiger Esel trug zwei Säcke und wir Kinder bekamen jedes eine große Tüte mit Süßigkeiten. Im Winter 1927 war es sehr kalt. Im Februar fiel über zwei Meter Schnee. Die Straßen waren nicht befahrbar, in der Woche vor Fastnacht konnten wir nicht in die Schule, wir kamen nicht durch.

Auf unserem Schulweg, der über eine düstere Höhe ging, mussten wir an einem finsteren Wald vorbei, Daustel genannt. Da stand etwas seitlich ein Strauch, der einem Mann täuschend ähnlich sah. Obwohl ich wusste, was es war, bin ich immer vorbei gelaufen, weil ich Angst hatte. In der ersten Klasse ging es ja noch, da war Willi dabei, der mich immer beschützte. Aber im zweiten Schuljahr musste der ja schon nach Wenau, weil er in der dritten Klasse war.

Damals lagen in den Zigarettenpackungen kleine Stickereien oder die sogenannten Zigarettenbilder. Es gab ganze Serien mit Bäumen, Blumen, Autos, Schiffen, Sportlern oder Filmstars. Alle Kinder fragten „Onkel hast du kein Bildchen?“ Da ich mich aber nicht traute, gab mein Freund Willi mir alle Bildchen die er doppelt hatte.

Sehr ängstlich war ich auch, wenn Bärentreiber ins Dorf kamen, dann lief ich sofort nach Hause und schaute aus dem Fenster, wie der Bär tanzte. Der große Maulkorb war beeindruckend.

An einem Samstagnachmittag durften wir, frisch gebadet, noch einmal zu Lisa Weidenhaupt spielen gehen. Ich schätze, dass Anna 3- und ich 7 Jahre alt war. Ich sehe den Hof noch vor mir. Vorne ein großes Tor – links der Kuhstall. Rechts Plumpsklo mit Herz und Misthaufen, oben eine kleine Anhöhe mit einem Baum, wo wir spielten. Plötzlich höre ich Anna weinen und sehe, wie sie langsam in der Klogrube versinkt. Zwanzig Meter musste ich wohl noch laufen. Ich habe mich auf den Bauch gelegt und sie herausgezogen. Sie stank wie die Pest – unerträglich! Als wir nach Hause kamen, lachte unsere Mutter und war glücklich und dankbar. Zweimal gebadet, war sie wieder in Ordnung – nur unsere schönen neuen Kleider waren hin.

Wenn ich so überlege, was und womit wir eigentlich damals gespielt haben, fällt mir doch so das eine oder andere ein. Beliebt waren Reifen schlagen mit alten Fasseisenbändern, die manchmal eierten. Hühldopp – oder auch Knurr genannt- musste mit einer umwickelten Schnur zum Laufen gebracht werden. Go Go oder Seilspringen, Steinchenhüpfen in Felder, die wir auf dem Boden markierten, oder Murmeln in ein Loch rollen, aus Papier Flieger, Schiffe oder auch Windvögel basteln – aber dazu brauchte man eine lange Kordel, die hatte nicht jeder. In alte Konservendosen wurden zwei Löcher gemacht und Kordeln verknotet, damit konnte man herrlich laufen. Einige Kinder hatten auch Stelzen. Und es gab Ballspielen, Nachlaufen….

Im Frühjahr wussten wir, wo die herrlich riechenden wilden Veilchen wuchsen. Beim Versteckspiel fanden wir einmal ein großes Nest mit Hühnereiern. Die wurden natürlich redlich geteilt. Als ich damit nach Hause kam, musste ich sie dem Besitzer zurückbringen. Die Bäuerin hat sie mir geschenkt. Im Winter wurde auf alten Kisten gerodelt und wer am weitesten kam beim Bahnschlagen, der hatte gewonnen. Ich war immer die Letzte!

Am 13. Juli 1928 hatte ich die ehrenvolle Aufgabe, dem Pastor in Wenau, Dechant Körfer, ein Gedicht zum Namenstag aufzusagen. Er hieß Heinrich. Lehrer Schramm hatte mir gesagt:“Geh‘ und bestelle den Leuten in Hamich einen schönen Gruß von mir und frage, ob du ein paar Blumen für den Pastor haben könntest.“ Das hatte ich zu wörtlich genommen. Meine Mutter bekam einen Schrecken, als der Keller voller Blumen lag.

Im Frühjahr 1929 besuchte uns der Großvater und bat meine Eltern, nach Schevenhütte zu ziehen. Es war keine leichte Entscheidung, sie wären lieber in Hamich geblieben, denn auf meine Mutter kam sehr viel zu, sie wollten aber auch andererseits die Eltern nicht hängen lassen, die allein nicht mehr klar kamen.

In den Osterferien war es dann so weit, wir zogen um. Gegen 8 Uhr morgens war der Großvater mit Pferd und Wagen da. Alles stand in Kisten und Kasten verpackt. Weil in dem Haus der Großeltern nicht alles aufgestellt werden konnte, mussten die Möbel bei Verwandten untergebracht werden, außer den Schlafzimmern, was ich sehr bedauerte. Mit der dritten und letzten Fuhre gingen auch wir mit. In Schevenhütte angekommen, war ich untröstlich. Meine Marianne hatte auf der Fahrt einen Unfall, zwei Finger waren abgebrochen.

Es war trotz allem ein sehr liebenswertes und schnuckeliges Bruchstein- und Fachwerkhaus – die Mauern teilweise 1m dick. Die Fenster waren mit einmalig schön behauenen Blausteinen eingefasst und mit der gemeißelten Inschrift GW 1705 versehen – der Erbauer hieß Gilles Wingen. So gemütlich es auch war, es war einfach für acht Personen zu klein. Onkel Josef wurde von seiner Firma nach Hamburg versetzt, wo er Tante Meta, die Tochter aus einer Brauerei, heiratete, die heute 98jährig, noch selbst kocht. An Onkel Josefs Parfümwolke und an seine schicken lila Ringelsocken kann ich mich noch gut erinnern.

Onkel Peter, der jüngste Bruder meiner Mutter, heiratete Maria Lothmann aus dem Kolonialwarengeschäft an der Kirche. Es war ein rauschendes Fest. Anna und ich waren Streuengel und mussten nach der Trauung Blumen werfen. Das Gedicht, das ich aufsagen musste, hatte vierzehn Strophen. Onkel Peter übernahm dann Pferd und Wagen und Großvater ging in den Ruhestand. Weil er aber durch seine Selbstständigkeit sehr wenig eingezahlt hatte, bezog er eine Rente von 38,- RM. Nun waren wir noch zu 6 Personen und die Raumfrage im Haus war geklärt.

Jetzt hatte ich keinen langen Schulweg mehr – wenn ich die Strasse bergauf schräg überquerte, war ich auf dem Schulhof. Ich kam zu der Lehrerin Frl. Linden, die auch meine Mutter schon unterrichtet hatte. Als ich ihr meine Zeugnisse gab, sage sie: „Ich hoffe, du hast dieselben guten Noten wie Agnes, deine Mutter!“

Weniger vorteilhaft war es für mich als Kind, wenn ich die Strasse bergab schräg überquerte – dann war ich auf dem Kirchenvorplatz. Jeden Morgen musste ich um 7 Uhr in die hl. Messe, selbst in den Ferien weckte meine Mutter mich mit den Worten: „Maria, steh‘ bitte auf – ich würde dich ja gerne schlafen lassen, aber du weißt ja, Großvater hat sonst wieder den ganzen Tag schlechte Laune!“ Geschadet hat es aber nicht.

Wenn ich in Gedanken durch die alte Eichentür gehe, sehe ich noch alles vor mir wie es war. Ein kleiner Flur, zwei Türen, geradeaus in den Keller, seitlich in die Küche. In der Küche links eine große Anrichte mit Kesseln, Backformen, Schüsseln und einem Butterfass. Daneben die Zentrifuge, die auf dem Boden festgeschraubt war und jeden Abend nach dem Durchdrehen der Milch, mit all ihren Teilen gespült werden musste. Wenn man so etwa 5 Liter Rahm hatte, wurde gebuttert. Die Magermilch bekamen entweder das Kalb, oder die Schweine. Zwischen Zentrifuge und Herd stand eine Vorratskiste mit Holz, die aber auch als Sitzbank zu benutzen war. Der mit Blumenranken verzierte Herd hatte ein Ofenrohr, das durch die Decke ging und das Schlafzimmer der Großeltern mitheizte, eine Backofentür, die in der Mitte geteilt war und sich jeweils seitlich öffnen ließ, und obendrauf ein Wasserschiff, worin man sich spiegeln konnte. Neben dem Herd stand ein gepolsterter Holzsessel, der Lieblingsplatz meiner Großmutter, wo sie meistens saß und strickte. Vor ihrer Hochzeit war sie als Köchin bei einer Porzellanfabrikantenfamilie. In dem großen, geräumigen Schrank genannt „Glasekass“ befanden sich unter anderem sehr viele schöne Kuchenteller, Sammeltassen, Schalen, Vasen (aber auch Nippesfiguren), ehemalige Geschenke, die eigentlich viel zu schade für den täglichen Gebrauch waren. In einer Ecke der Küche war die Wasserleitung, und ein schwerer Tisch mit Stühlen war der Mittelpunkt. Die Wendeltreppe nach oben wurde über der zweiten Stufe mit einer Tür geschlossen, so dass die untere Stufe in der Küche war und mit der Stufe zur Wohnstube eine ideale Spielecke für uns Kinder abgab.

Die Tür zur Stube war in der oberen Hälfte bunt bleiverglast. Wenn wir um 12 Uhr aus der Schule kamen, stand das Essen auf dem Tisch, selbst montags am Waschtag, der sich im Winter auch in der Küche abspielte. Die Großeltern saßen schon am Tisch und es wurde zuerst ein langes Tischgebet gesprochen. Von 14 – 16 Uhr mussten wir wieder in die Schule. Wie meine Mutter alles geschafft hat, ist mir heute unbegreiflich. Selbst wenn eingemacht, geschlachtet oder gewurstet wurde, wobei Tante Billa half, – kam mein Vater nach Hause, war immer Alles blitzblank, er wäre sonst der unglücklichste Mensch auf Erden gewesen.

Mein Vater hätte es auch begrüßt, wenn die zwei Kühe und zwei Ziegen abgeschafft worden wären, aber der Großvater konnte sich nicht trennen. Im Winter war kein Schwein im Stall. Vor Weihnachten wurde geschlachtet, da war ich froh, dass der Gestank von Pellkartoffeln, die als Schweinefutter auf dem Küchenherd gekocht werden mussten, nicht mehr durch das Haus zog.

Da auch die Kühe vor dem nächsten Kalben trocken standen, also nicht gemolken werden mussten, wurden sie nur gefüttert und der Stall gemistet und das war noch Arbeit genug. Ein Leckerbissen für die Kühe waren die Spitzen vom Heidekraut, die mit der Sichel geschnitten in einer schweren Bürde auf dem Kopf vom Wenauerberg geholt wurden. Das „Büdoch“, ich vermute, es kam von „Bürde“ und „Tuch“, war ein quadratisches Stück Sackleinen, an den vier Ecken war eine Kordel, die überkreuz gebunden wurde. Damit man das Gleichgewicht halten konnte, musste genau gepackt werden. Beim Aufheben auf den Kopf wurde die Bürde etwa 1 m hoch gegen einen Baum gehoben, die Frauen knieten und nahmen sie mit dem Kopf auf und balancierten erst mal den steilen Berg hinunter und noch zwei Kilometer auf der Landstraße nach Hause. Weil die Mutter nicht gerne alleine war, ging ich mit, wenn die Nachbarin verhindert war. Auf diesem Weg wurde auch getrocknetes Farnkraut zum Streuen oder auch Anheizholz aus dem Wald geholt.

Alma und Blume hießen die zwei Kühe. Die kleinere Ziege hieß Liebchen und das war sie auch. Die ältere Ziege dagegen war ein Biest. Sie hörte auf den Namen Kettchen. Meiner Mutter und der Großmutter lief sie nach wie ein Hündchen. Alle Anderen gingen ihr immer schleunigst aus dem Weg. Sie war sehr angriffslustig, stellte sich auf die Hinterbeine und wehe, man bekam einen Kopfstoß von ihr. An einem heißen Sommertag wollte die Großmutter in der Scheune ein Fußbad nehmen. Wasser hatte sie schon hingestellt und holte die vergessene Seife. Da hatten die Ziegen das Wasser gesoffen und als sie neues Wasser geholt hatte, war von den Ziegen inzwischen die Seife gefressen worden.

Samstagsmorgens bereitete meine Mutter aus 6 Pfund Mehl einen vorzüglichen Hefeteig. Daraus wurden zwei große Fladen mit Äpfeln oder Pflaumen mit Streuseln und zwei große Kastenbrote geformt, mit Namenszetteln versehen und zum Bäcker zum Abbacken gebracht.

Am Sonntagnachmittag war Familientreffen in der Stube. Nach dem Kaffeetrinken spielten die Männer „Pandur“, die Frauen saßen zusammen und handarbeiteten, stickten, strickten, häkelten, knüpften und bastelten. Die feinsten Spitzen wurden gehäkelt, ganze Tischdecken aus dünnem seidigen Garn gestrickt. Meine Mutter hatte aus feinem Batist Bulgarenblusen genäht, die dann mit aufgebügelten Mustern bestickt wurden. Manchmal tranken sie auch einen Johannisbeerwein, den meine Mutter aus den eigenen Früchten herstellte. Onkel Jean, „Schang“ genannt, mit Tante Lenchen und Maria kamen jeden Sonntag, ebenso Onkel Franz und Tante Billa, Onkel Hein mit Tante Maria sowie Onkel Josef Dunkel mit Tante Mariechen. Die Kinder kamen, wenn sie Zeit hatten, auch dazu, denn bei uns war was los. Onkel Schang war ein geborener Komiker, der Heinz Erhard in nichts nachstand. Die Männer überlegten, ob sie lieber ein Bier oder ein Schnäpschen trinken wollten. Es wurde zusammengelegt und ich musste entweder 1/2 Liter Klaren oder Bier in einem Sifon im Hotel Casino holen, das aus Bierseidel mit Deckel getrunken wurde. Es wurde aber nie ein Besäufnis. Am 4. Sonntag nach Pfingsten war Schützenfest. Vorher musste das Heu in die Scheune. Selbst der Vater nahm Urlaub, wenn es eingebracht wurde. Ärgerlich war es nur, wenn es in das trockene Heu regnete. Es verlor nicht nur an Qualität, man kam auch nicht voran. Am Schützenfest versammelten sich die Mitglieder des Vereins zum gemeinsamen Kirchgang. In Uniformen und mit Musik ging es zur Messe. Mein Großvater war Offizier. Anschließend ging es zum Frühschoppen und dann zum Vogelschießen. Wer den Vogel herunter schoss, war Schützenkönig. Als es meinem Großvater, nachdem er schon 42 Jahre in der Gesellschaft war, gelang, hat er geweint vor Freude. Es war ein Volksfest, mein Großvater war sehr beliebt. Alle waren begeistert. Im Umzug durch den Ort fuhren Anna und ich in der Kutsche mit, weiß gekleidet mit Kränzchen im Haar. Beim Königsball am Montagabend war der Saal zu klein und Großvater trug ganz stolz die schwere silberne Königskette. So ein Fest war kein billiger Spaß. Als Onkel Hein hörte, dass sein Vater König war, kam er zu meinen Eltern und sagte: „Ich übernehme die Kosten“. Er war selbstständiger Schmiedemeister und ein richtig feiner Kerl. Dienstags war mit dem „Barekloppe“ dann der Ausgang des Festes. Es wurde eine alte Tonbare auf einen in die Erde geschlagenen Pfahl gestülpt, die dann mit verbundenen Augen zerschlagen werden musste. Wer sie traf, war „Barenkönig“, ein Umzug und der „Bareball“ waren damit der Abschluss. Aber Schützenkönig blieb man bis zum nächsten Jahr und hatte noch viele Verpflichtungen. Großvater erzählte auch manchmal von früher.

Er war sehr stolz, dass er die Steine für die Kirche, die 1888 fertig gestellt war, mit Pferd und Wagen gefahren hatte. Im Krieg 1870 – 71 ging er noch zur Schule. Als er nach Hause kam und erzählte, dass Napoleon geschlagen war, hätte sein Großvater gesagt: „Jung, glaub‘ es nicht, und wenn es stimmt, dann sind es keine Franzosen mehr wie zu meiner Zeit.“ Nach unserem Großvater wurde das „Pettere Päddchen“ benannt, er hieß Peter. Er stammte aus Mützenich in der Eifel und wurde allgemein „D’r alde Mathar“ genannt. Er war entfernt mit dem Heimatdichter Ludwig Mathar verwandt, der als Studienrat in Köln 56 Romane veröffentlicht hat. Die Großmutter stammte aus Pier und erzählte: „Zu Hause hatten wir Sauen und Ferkel.“

Im Frühjahr 1932 musste rechtzeitig mit dem Tapezieren und Anstreichen, sowie mit dem Hausputz begonnen werden. Die Hausfront wurde wie in jedem Jahr geweißt, die Holzbalken vom Fachwerk und der Sockel des Hauses mit glänzender schwarzer Farbe gestrichen. Es stand ein Fest ins Haus. Am Weißen Sonntag ging ich zur ersten hl. Kommunion. Die Haustür wurde mit einem breiten grünen Kranz geschmückt. Rechts und links stand ein Tannenbäumchen, alles mit weißen Rosen, die wir vorher aus Krepppapier gebastelt hatten. Über der Tür ein Schild: „Bleibe wie du heute bist, der Himmel dir dann sicher ist.“ Das ist mir nicht gelungen. In den Nachbardörfern durften die Mädchen schon weiße Kleider mit Kränzchen anziehen, aber wir mussten noch schwarze Kleider mit langem Brautschleier tragen.

Mutter hatte mir für sonntags ein Samtkleid – der Überrock war mit Litze eingefasst – genäht und für montags ein Kleid in einem schönen Kaiserblau. Es war das letzte Jahr, in dem schwarze Kleider getragen werden mussten. Gebacken waren 27 Fläden und 12 Kuchen, denn das Fest dauerte 3 Tage. Sonntags waren die Großeltern, die Tanten und Onkel, montags die Cousinen und Vettern und dienstags die Nachbarn eingeladen. Tante Lenchen schwang wie gewohnt den Kochlöffel. Besonders gefreut habe ich mich, dass der Großvater aus Bergrath mitkam. Die Großmutter lebte leider nicht mehr. Ich schätze, sie ist gestorben, als ich so 3 1/2 Jahre alt war, aber ich kann mich genau erinnern, wie sie im Bett lag, Nachtjacke und Haube spitzenverziert und an ihre leckeren Rahmkaramellen, die sie immer für mich hatte. Sie stammte aus einer großen Bäckerei, die mit eigenem Fuhrwerk das Brot ausfuhr. Nach der Hochzeit hatten die Großeltern ein großes Haus gebaut. In einem Anbau war sogar ein großer gemauerter Backofen. Der Bruder der Großmutter war ein Lebemann, der das ganze Vermögen später durchgebracht und das Geschäft ruiniert hat, aber da die Großmutter ja schon verheiratet war, brauchte sie nicht für seine Schulden aufzukommen. Der Großvater, der nicht nur Maschinen baute, sondern auch plante, war ein Mann, dem Alle Respekt zollten, aber den auch Alle gerne mochten. Er verstand sich mit meinem Vater sehr gut, sie lagen auf einer Linie, er spielte auch dieselben Instrumente. Als junger Mann diente er in der Kaserne in Jülich als Militärmusiker. An einem Sonntagnachmittag musste er auf der Schreibstube Wache schieben. Eine sehr wertvolle Taschenuhr, die einem Kameraden gehörte, war gestohlen worden, als er kurz zur Toilette war. Der Großvater war ein grundehrlicher Mensch und hat sehr gelitten, weil der Verdacht auf ihn fiel. Ein ganzes Jahr später konnte der Dieb ermittelt werden, als die Uhr zur Reparatur gebracht wurde hat der Uhrmacher die Sache aufklären können.

Der Großvater kam zufällig vorbei, als ein Personenzug auf der Strecke Aachen-Köln in der Nähe des Bahnhofs Nothberg liegen geblieben war. Er besah sich den Schaden und reparierte den Zug. Als der Lokführer seinen Namen notieren wollte, sagte er: „Fahren Sie nur, es ist schon gut.“ Wir besuchten den Großvater regelmäßig. Meine Mutter hatte auch einen Stein bei ihm im Brett, er mochte sie gut leiden. Eines Tages sagte er zu meinem Vater: „Ich habe mir das überlegt, du hast einen sehr weiten Weg zur Arbeit, ich vermache dir mein Haus.“ Mariechen, das war die Zwillingsschwester meines Vaters, die den Großvater mitversorgte, kann ja auf der ersten Etage mit ihrer Familie wohnen bleiben, ich brauche nur ein Zimmer, dann haben wir alle Platz genug.“ Da sagte mein Vater: „Du meinst es gut, aber das Haus steht Mariechen zu, die auch Mama gut versorgt hat.“ Wortlos stand der Großvater auf, ging ins Treppenhaus und rief, Tante Mariechen möchte mal ‚runterkommen und ich höre ihn noch sagen: „Wir können nächste Woche zum Notar gehen, du hast einen guten Bruder.“ Die Großeltern hatten im 1. Weltkrieg etwa 40.000 Mark in 20-Mark-Goldstücken im Sparstrumpf. Es war unter Androhung von Strafe verboten, sie zu behalten. Sie mussten als Kriegsanleihe gezeichnet werden, was später sehr bedauert wurde. Um die Jahrhundertwende hatte der Großvater für meinen Vater von einem Zigeuner eine alte Geige gekauft. Sie hatte einen wunderbaren Klang, wenn mein Vater in der Christmette darauf spielte, waren alle Leute begeistert. Neugierig, wie wir Kinder waren, entdeckten wir eines Tages, dass in der Geige ein Zettel klebte, der sehr verstaubt war. Wir konnten ihn nicht lesen, aber übersetzt hieß es so: „Mich hat Stradivari gemacht“. Selbst, wenn es keine Echte gewesen wäre, es ist nie untersucht worden, es war ein sehr wertvolles altes Instrument. Vater hatte auch eine 3/4 Geige gekauft, damit wir Kinder darauf lernten. Anna – sehr musikalisch- hatte keine Lust. Redlich habe ich mich bemüht und hätte es gerne gelernt, aber mir fehlte das musikalische Gehör. In der Woche zwischen Ostern und dem Weißen Sonntag kam der Briefträger und brachte einen langen Brief in einer sehr markanten Handschrift und eine Geldanweisung 500 Reichsmark – dafür sollten die Eltern mir ein Geschenk kaufen. Absender war Onkel Leo, ein älterer Bruder meines Vaters, der unverheiratet in Berlin lebte. Er war Chefdramaturg und später Intendant am Schauspielhaus Berlin. Seine abgeschlossene Lehre als Drogist hatte er in Düsseldorf gemacht. Als er den Großvater fragte:“ Kannst du mir noch einmal Geld geben, ich kann dir nicht sagen, wofür,“ hätte ihm der Großvater gesagt: „Wenn du mir nicht sagen kannst, wofür, kann ich dir nicht helfen.“ Als er dann hörte, dass er die Schauspielschule besuchen wollte, hätte er geantwortet: „Warum soll es da keine anständigen Leute geben.“ Er wurde nicht nur Schauspieler, er schrieb auch selbst Theaterstücke, die aufgeführt wurden. Ein ganz Bekanntes war der „Schattentanz“ oder „Roter Mohn“. Einmal zeigte uns der Großvater einen Brief, wo er folgendes schrieb: „Ich habe an einem Wettbewerb teilgenommen, ein Theaterstück musste geschrieben werden, es ging über eine Krankheit. 30.000 RM waren ausgesetzt, und wer blieb Sieger: Dein Sohn.“ Er reiste viel, und oft bekamen wir Ansichtskarten aus Wien, Paris oder Altötting.

Wenn Mutter Namenstag hatte, kam eine Riesenschachtel Pralinen direkt aus dem Cafd Kranzler am Kurfürstendamm. Die Verpackung war schon allein ein Kunstwerk. Manchmal schickte er auch Rosen. Am Kriegsende ist das Theater mit allen Mitarbeitern nach Elbing gegangen, wo keiner überlebt hat.

Als Großvater gestorben war, hatte Mutter für uns Kleider genäht in einem schwarz-weißen kleinen Karo, mit Faltenrock und Pelerine. An die Beerdigung selbst kann ich mich kaum erinnern, wohl, wie er aufgebahrt war. Das große Zimmer war leer geräumt und ganz mit schwarzen Tüchern ausgeschlagen, auch die Decke. Selbst die Fenster waren verhangen. Die schwarzen Tücher hatten Verzierungen mit Silberfäden und silberner Tresse. In der Mitte stand etwas erhöht der Sarg, Blumen und Kerzen drum herum. Das Bild habe ich bis heute vor Augen. Damals hatte Mutter ohne es zu ahnen einen Beinamen: „Engel der Straße” wurde sie genannt. Ein Nachbar hatte ihn geprägt. Er hatte seine Frau bei einer Frühgeburt verloren und war mit zwei Söhnen allein. Mutter war immer ansprechbar, wenn ein Brief an eine Behörde geschrieben werden musste, ob ein Kind zur Welt kam oder jemand starb, selbst, wenn eine Kuh kalbte, sie wurde immer gerufen. Einer Familie lieh sie regelmäßig Geld, was aber am Lohntag prompt zurückgezahlt wurde. Es war eine schlechte Zeit, die so genannte Arbeitslosenzeit. In unserer Familie waren aber noch alle in Arbeit und Brot. Wenn jemand starb, hielt sie in der Kirche die Totenwache, betete vor und stimmte die Lieder an. Einmal kam ein junger Mann und wollte bezahlen, weil sie für seinen Vater die Andacht gehalten hatte. Da sagte sie: „Das habe ich gerne gemacht, Richard, dafür will ich doch nichts haben.“ Worauf er antwortete: „Ist gut, Frau Herzog, wenn Sie dann sterben, bete ich für Sie die Totenwache.“ Weil der Küster schon älter war, wollten die Frauen den Adventskranz machen. Bevor die Anderen überlegt hatten, wo sie das Tannengrün holten, hatte meine Mutter den Kranz schon fertig. Einmal war sie sehr unglücklich und das war meine Schuld. Abends, wenn es dunkel wurde im Winter, kam eine Nachbarin, ihr Mann und drei Söhne waren im ersten Krieg gefallen. Oft brachte sie auch ihre Enkelin Magda mit. Die Eltern hatten eine Gastwirtschaft in Mariaweiler, deshalb war sie manchmal bei der Großmutter und ging dann auch mit uns zur Schule. Zuerst wurde bei Kerzenlicht der Rosenkranz gebetet. Frau Franzen, in schwarzem Taft gekleidet, brachte eine spitze Tüte mit Haselnüssen und an Stelle von Geld wurde um die Haselnüsse gespielt. Meistens spielten wir Pandur.

Eines Abends hatte Frau Franzen das Spiel an sich geboten und ich sagte so:“ Schöppe (also Pick) wird Trumpf.“ Da schmiss sie wütend die Karten hin und Mutter sagte, als sie aufstand: „Frau Franzen, gehen Sie schon?“ – „Was soll ich denn hier noch!“ Es war nur eine dumme Bemerkung von mir gewesen, weil ich keine Pick-Karte hatte. Sie hatte aber den Verdacht, ich hätte in ihre Karten geschaut. Es dauerte 3 Tage, und wir wussten nicht, was wir machen sollten. Am 4. Tag flog die Tür abends auf, Frau Franzen warf eine Tüte Nüsse auf den Tisch und sagte: „Hier kommt der Kartteufel!“

1933 kam Hitler an die Macht, wie, das weiß ich bis heute noch nicht, angeblich war er auch in Schevenhütte mit 100% gewählt worden; wir kannten aber über 20 Leute, die ihn nicht gewählt hatten. Willi aus Hamich wollte gerne Maler und Anstreicher werden, weil er auch sehr gut malen und zeichnen konnte, aber es war nichts frei. Er fand dann eine Lehrstelle als Autoschlosser und war bei den Ersten dieses Faches, die in Aachen die Gesellenprüfung ablegten. Der Beruf war neu. Im Nachhinein war es sehr gut, dadurch hat er später im Krieg nicht in vorderster Front gestanden. Als ich dann ein Jahr später, 1935, aus der Schule kam, war es mit Lehrstellen immer noch sehr schlecht bestellt, vor Allem, wenn man nicht im BDM war. Aber es sah so aus, als hätte ich Glück. Tante Mariechen aus Bergrath hatte mir eine Lehrstelle bei der Hilko, einem Konsum, besorgt, Onkel Carl, ein Vetter von Vater, besorgte mir eine Lehrstelle in einem Feinkostgeschäft in der Grabenstraße in Eschweiler. Er hatte ein alteingesessenes Geschäft nebenan, für Lederwaren, Bürsten und Toilettenartikel, und in der Weihnachtszeit verkaufte er Krippen und Baumschmuck. Eine Cousine meines Vaters betrieb eine Damenschneiderei, ebenfalls in der Grabenstraße, es war die Hauptgeschäftsstraße, alle Damen aus Eschweiler, die etwas auf sich hielten, ließen bei ihr arbeiten. Da ich immer schon gerne nähte, entschloss ich mich für die Lehrstelle bei ihr. Als ich 14 Tage in der Lehre war, wurde ihr Mann nach Köln versetzt. Sie gab alles auf und meine Lehrstelle war futsch. Nun blieb ich erst mal zu Hause und half der Mutter, es war genug zu tun. Der Großvater fühlte sich nicht gut und litt unter Gicht. Die Großmutter war mit Rosenkranzbeten und Stricken beschäftigt. Eines Tages kamen drei Männer in SA-Uniformen, grüßten mit „Heil Hitler“, meine Großmutter fragte:“ Was ist denn das für ein Heiliger?“ Sie sagten: „Frau Mathar, wir haben Sie für das Mutterkreuz vorgesehen.“ Die Großmutter antwortete:“ Ach, meine Herren, behalten Sie es nur, ich habe so viele Kreuze!“

Im Sommer kam Pastor Geimer, der uns gegenüber wohnte, und erzählte: „Die Haushälterin von meinem Studienfreund, der in Vettweiß bei Düren Pastor ist, sucht ein Kochlehrmädchen. Maria, hättest du nicht Lust?“ Nach drei Wochen kam Post, die Oberin aus dem Kloster in Vettweiß schrieb, da die Stelle im Pfarrhaus schon besetzt sei, böte sie mir eine Kochlehrstelle in ihrem Hause an. Die Bedingungen lagen gleich bei, 30,- Mark monatlichem Schulgeld und einer langen Aussteuerliste, die Ausbildung sollte zwei Jahre dauern. Der Vorstellungstermin war gleich angegeben. Mutter machte mir den Vorschlag:“ Wenn du Lust hast, fahren wir mit dem Fahrrad und auf dem Rückweg kaufen wir für das gesparte Fahrgeld in Düren einen schönen Kleiderstoff.“ Es war gerade Sommerschlussverkauf. Wir fanden im Kaufhof einen sehr apart gestreiften Musselinrest für ganze 2,58 Mark, es wurde mein Lieblingskleid. Die Stoffe für die Hauskleider, Schürzen und was ich sonst noch brauchte, ließ sie von Witt Weiden schicken. Wir hatten ja noch Zeit. Am 6. Januar 1937 sollte ich kommen. Die Fahrt nach Vettweiß, hin und zurück etwa 50 km, war keine Selbstverständlichkeit.

Als ich mit dem Schulentlassungszeugnis nach Hause kam, haben die Eltern mir ein Goldrad geschenkt. Es war zwar gebraucht, aber neuwertig, und hatte 28,- Mark gekostet. Der Verkäufer hatte zugesagt, mir auch das Fahren beizubringen, aber nach einer Woche schmiss der das Handtuch. Da stand mein schönes Rad in Blau und Silber mit einem seidigschimmernden bunten Fadennetz am Hinterrad. Als ich einmal davor stand, höre ich meine Mutter noch sagen: „Ja, Maria, es ist nicht alles Gold, was glänzt.“ Wie Recht sie hatte. Vetter Peter hat es dann doch noch geschafft, dass ich Fahren lernte. Am 1. Tag, an dem ich es konnte, bin ich zweimal nach Bergrath hin- und zurück geradelt. Da alles leicht ist, was man kann, hat mir das Radfahren Freude gemacht. Meiner Mutter ging es aber nicht viel besser. Sie hatte ein halbes Jahr vorher Radfahren gelernt, da sie aber in der ersten Zeit nur geradeaus fahren konnte, ist sie einmal gestürzt, weil ein Stein im Wege lag.

Am 1. Mai kam meine Mutter an mein Bett und sagte: „Du hast einen Maibaum.“ Erst wollte ich es nicht glauben, doch da sagte sie: „Es stimmt!“ Den musste ich gleich sehen, aber der Maibaum war weg. Die Großmutter hatte ihn den Ziegen gebracht, die über die frischen grünen Birkenblätter herfielen. Als sie sah, dass ich weinte, holte sie einen Neuen aus dem nahen Wald, aber der war es nicht, damit wollte ich nichts zu tun haben. So ging die Zeit dahin. Im 3. Reich hatte sich Vieles verändert. Die Schützenvereine wurden verboten, die Musikkapellen bekamen so viele Auflagen, dass die Männer die Lust verloren und sich nur noch selten trafen. Meine Eltern waren praktizierende Christen, vor allem mein Vater wollte von der Partei nichts wissen. Einmal sagte ein Bekannter zum ihm: „Mattö, geh doch mal mit auf eine Versammlung, du weißt ja gar nicht, was sich tut.“ Darauf antwortete mein Vater: „Ich lasse mich doch nicht verdummteufeln, und ob ich weiß, was sich tut. Die Sache nimmt kein gutes Ende, es riecht mir zu sehr nach Krieg.“ Zehn Jahre später sagte mir der Mann: „Dein Vater hat mir die Wahrheit gesagt.“

Als der Sommer zu Ende ging, das Pflaumenmus in Töpfe gefüllt und mit heißem Palmin luftdicht abgedeckt, Erdbeeren, Stachelbeeren, Waldbeeren, Birnen, Äpfel und Pflaumen in Weckgläser eingekocht, die Kartoffeln und Möhren geerntet, Weißkohl und Bohnen in Drei-Schilder-Bahren aus Langerwehe waren, wurde es langsam ruhiger. Da wurde meine Aussteuer genäht. Auf Drei König fuhr Onkel Hein mit seinem Opel P4 mich nach Vettweiß. Meine Mutter war dabei und hatte Tränen in den Augen, als sie zurückfuhren. Ich nicht, ich war jung und guter Dinge. Das Kloster war eine ehemalige Villa in einem geräumigen Park, umgeben von einem hohen schmiedeeisernen Gitter. Der Orden: Schwestern von den Christlichen Schulen und von der Barmherzigkeit. Die sechs Schwestern, die dort lebten und wirkten, trugen lange schwarze Habite und große, weiße, steife Kragen und Hauben ähnlich wie die Vinzentinerinnen.

Schwester Oberin war schon etwas älter. Schwester Maria Alexis, eine geborene Baroness, leitete eine Handarbeitsschule, sie war eine sehr vornehme, aber liebenswerte Frau. Schwester Laura war eine Frohnatur, sie machte die ambulante Krankenpflege und fuhr bei jedem Wetter mit ihrem alten Fahrrad und wehendem Schleier über die Dörfer. Schwester Caroline war eine sehr Stille, sie sorgte für alles, was nicht mit der Küche zu tun hatte. Schwester Benedikta, eine sehr mütterliche Frau, leitete den Kindergarten. Schwester Felicitas war die Köchin, mit der wir auch sehr gut auskamen. Wir, das heißt Barbara, die schon ein Jahr in der Lehre war, und ich. Morgens konnte Barbara zehn Minuten länger schlafen als ich, sie hatte einen Bubikopf, aber ich musste meine langen Zöpfe noch flechten. Vom ersten Tag an durften wir unter Anleitung mitkochen. 14 Tage später starb Barbaras Vater. Am Beerdigungstag stand

 

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bekommen. Das Essen war fertig, als die Schwestern kamen. Auch die zwei alten Damen, die im Hause ihren Lebensabend verbrachten, hatte ich bedient. Sie bewohnten auf der ersten Etage einen gemeinsamen großen Salon, wo sie auch zu speisen wünschten, und ihre Schlafzimmer hatten. Als es nach dem Essen schellte und man mich nach oben rief, brach mir der Schweiß aus – was hatte ich nur falsch gemacht? Zaghaft klopfte ich an, Schwester Oberin war auch im Zimmer, das bedeutete nichts Gutes. Frau Hecking kam auf mich zu und sagte: „Frl. Herzog, Sie haben vorzüglich gekocht, ich habe schon lange nicht mehr ein so zartes Kotelett gegessen.“ Da viel mir ein Stein vom Herzen.

Der Bischof von Aachen wohnte einmal eine Woche im Kloster, als er auf Firmungsreise im Dekanat Zülpich war. In der Küche ging es rund, wenn ein Fest ausgerichtet wurde, besonders bei der Primiz von Walter Erasmy, da wurde gekocht und gebacken. Sonntags bekam ich meistens Besuch von zu Hause. An einem Sonntagmorgen kam unser Nachbar, Schreinermeister Lothmann, und brachte seine Söhne und Anna, meine Schwester, mit. Den älteren Sohn Willi hat sie später geheiratet. Nach Ostern kamen von zu Hause keine guten Nachrichten. Vater war in das Bardenberger Krankenhaus gekommen. Es war zum Verzweifeln, dass man nicht herausfand, was ihm fehlte, vor allem, weil es ihm immer schlechter ging. Nach acht Wochen stand es endlich fest. Er hatte einen Abszess zwischen Rippen und Zwerchfell und konnte zwei Wochen später nach einer Spritzenkur geheilt nach Hause entlassen werden.

Onkel Josef Dunkel besuchte mich mit dem Motorrad an einem Sonntagnachmittag und erzählte: „Familie Mies aus Köln sucht ein Kindermädchen.“ Da hatte er mir einen Floh ins Ohr gesetzt, vor allem, weil ich die Familie durch Tante Mariechen kannte. Hinzu kam, ich wollte Geld verdienen und nicht den Eltern auf der Tasche liegen. Damals war das mit dem Krankengeld nicht so geregelt wie heute. Wenn jemand krank wurde, hatte er große finanzielle Einbußen.

Es hatte geklappt, ich bekam die Stelle. Am 1. August 1937 fing ich in Köln an. Familie Mies bewohnte in der Gereonstr. 10 ein Patrizierhaus. Parterre war die Rechtsanwaltskanzlei. Da ich ja die Familie kannte, habe ich mich schnell eingelebt, es war wirklich mit Familienanschluß. Mit Klaus, der drei Monate alt war, kam ich gut zurecht. Morgens und nachmittags fuhr ich mit ihm an die frische Luft. Manchmal bis zum Rhein oder in den Volkspark. Morgens durfte ich von 9 bis 11 im bischöflichen Garten fahren. Das Palais des Kardinals Schulte war gleich nebenan und der Park sehr groß. Er reichte von der Gereonsstraße bis zur Eintrachtstraße und zum Klingelpütz. Die Fenster der Häuser waren zum Garten hin alle schwer drahtvergittert. Drei Gärtner arbeiteten dort, wenn mir auf ein bestimmtes Klingelzeichen die Tür geöffnet wurde, ließ sich nur der Hauskaplan manchmal blicken und sprach ein paar Worte. Der Hausdiener war sehr verschlossen. Wenn der Kardinal bei Mies seinen Neujahrsbesuch machte, kam zuerst der Hauskaplan und fragte, ob es recht wäre. Der Kardinal wurde mit Eminenz angesprochen. Wenn er aus dem Tor fuhr, waren die Fenster des Wagens mit schwarzen Tüchern verhangen. Er hatte ja wahrscheinlich im Dritten Reich auch seine Schwierigkeiten. Seinen Haushalt führte eine Cousine, eine stolze westfälische Frau. Ich schätze, die hätte sich lieber einen Finger abgeschnitten, als eine Schürze umgebunden. Heute steht in Kardinals Garten das Priesterseminar, damals war es noch in Bensberg. Ein Bruder von Rechtsanwalt Mies studierte dort. Er hatte noch ein Zimmer im Hause Mies, weil die Eltern nicht mehr lebten. Wenn wir in den Semesterferien abends mit ihm und Familie Mies Rommä spielten, scherzte er manchmal: „Maria, es hat keinen Zweck, dass Sie mitspielen, sie verlieren ja doch.“ 1938 hatte er Primiz. Im Hause Mies gab es einen großen Empfang. Einige Wochen vorher wurde schon geplant, abends saßen wir zusammen und Frau Mies fragte ihren Mann, der Hermann hieß: „Manes, wie denkst Du das mit den Stühlen?“ Darauf anwortete er: „Für jeden einen.“

Jeden zweiten Sonntag machte die Familie einen Ausflug und ich fuhr dabei den Kinderwagen. So lernte ich auch das Umland von Köln kennen. Schloss Brühl, den Königsforst und viele Sehenswürdigkeiten.

Frau Mies hatte mich bei einer Jugendgruppe von St. Gereon angemeldet, wo wir jeden zweiten Sonntag etwas unternahmen, wenn ich nicht nach Hause fuhr. Wir verbrachten ein verlängertes Wochenende im Bergischen Land und wohnten in einer Art Jugendherberge, direkt neben dem Altenberger Dom, als der Krieg ausbrach. Nun wurde alles anders. Rechtsanwalt Mies wurde, wie so Viele damals, eingezogen und kam nach Münster in die Kaserne. Eines abends rief er an: „Ich bin Gefreiter geworden“, worauf sein Schwiegervater antwortete: „Pass auf Manes, auf die hohen Tiere wird geschossen.“

Nun war ich mit Frau Mies meistens bei ihren Eltern, die ebenfalls in der Gereonstraße ein großes Haus hatten, in dem auch die Kinderarztpraxis des Vaters war. Hier lernte ich Gertrud Mehn kennen, sie war als Köchin im Hause, eine herzliche Freundschaft bestand bis zum Jahre 2000, in dem sie verstarb. Sie war eine Winzerstochter aus Lieser an der Mosel und war aus Liebeskummer nach Köln gekommen. Sie war zehn Jahre älter als ich; weil sie aber zu Hause schon Möbel und Aussteuer hatte, legte sie ihr verdientes Geld nicht auf die hohe Kante wie ich, sie kaufte sich Kleider. Anfang des Krieges war ja noch einiges in den Geschäften.

Heute ist der 24. Februar 2001 und Karnevals-Sonntag. Gerade fahren mit lauter Musik drei geschmückte Wagen vorbei, um in Werth, einem Nachbarort, den Fastnachtszug mitzumachen. Habe ich einen oder zwei Rosenmontagszüge in Köln erlebt? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls kamen wir morgens früh schon nicht mehr aus dem Haus vor lauter Zuschauern. Es war aber mit Sicherheit vor dem Krieg. Eine große Zuschauermenge hatte sich auch eingefunden, als bekannt wurde, dass der Führer kommt. Vier oder fünfmal klingelte es vorher, Herren in Zivil standen vor der Tür. Kriminalpolizei: „Es darf keiner aufs Dach oder es dürfen keine Blumen geworfen werden.“ Im offenen Wagen stand der Führer und winkte der Menge zu, als die Autos langsam vorbeifuhren. Die Leute jubelten ihm zu und die Reichskristallnacht war vergessen, wo alle Synagogen und jüdischen Geschäfte zerstört worden waren. Wenn ich die Juden mit dem Stern sah, habe ich mich geschämt. An vielen Geschäften stand ein Schild: Juden nicht erwünscht. In Schevenhütte hatten Tante Billa und Onkel Franz 1937 ein schmuckes Haus gebaut. Der Sockel aus Devonschiefer, der hier gebrochen wird. Das Haus, Rheinsand verputzt, glitzerte in der Sonne, die Fensterläden hellblau und weiß gestrichen. Auf diese schöne Hanglage war Tante Billa durch einen Traum gekommen. Glücklicherweise gehörte das Grundstück einer Tante von Onkel Franz, sie konnten es erwerben. Der Großvater war 1938 verstorben, 1939 waren der Westwall – und in Schevenhütte zwei Bunker gebaut worden. Es kam sehr viel Einquartierung in die Dörfer. In Schevenhütte lag eine Division aus Hamburg, die in den Hotels und Privathäusern wohnte. Im Jugendheim waren zwölf Soldaten untergebracht, die bei meinen Eltern etwas Familienanschluss fanden. Einmal kam ich Freitagsabends zum Wochenende nach Hause. Da stand meine Mutter mit hochrotem Kopf am Herd und backte Reibekuchen und war sehr erleichtert, als ich ihr das Pfannenmesser abnahm. Der Tisch in der Stube saß voller Soldaten. Einer spielte Akkordeon und sie sangen: „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ und alle Seemannslieder, die sie kannten. Sie hatten wohl alle etwas Heimweh. Der Jüngste hieß Kucki, Boxer von Beruf. Herr Fiolka, nicht mehr so jung, hatte eine große Wäscherei in Hamburg. Meine Eltern haben ihn besucht und er kam noch jahrelang nach dem Krieg im Sommer mit seiner Frau in Urlaub. Ende 1939 war Klaus Mies zweieinhalb Jahre alt, ein süßes Kerlchen, das noch nicht ahnte, dass er als Physiker am Bau des Atomreaktors bei Frankfurt maßgeblich beteiligt sein würde. Frau Gedicke, die das Haus Gereonstraße 10 von oben bis unten sauber hielt, kam auch nicht mehr. Frau Mies ging mit Klaus und „Ruddi“, der inzwischen geboren wurde, – er hat Medizin studiert und ist als Professor an der Uniklinik in Köln-Lindental – um den Kriegswirren zu entgehen, nach Süddeutschland. Gertrud fuhr an die Mosel zurück. Frau Dr. Wirtz fragte mich, ob ich Lust hätte, den Haushalt zu führen. Sie war nun 65 Jahre alt und hatte gesundheitliche Probleme, es wurde ja auch immer schwieriger, weil alles auf Lebensmittelkarten ging. Als ich einmal in der Ochsenmetzgerei der Witwe Jung in der Christophstraße in der Schlange stand, wurde eine ältere Dame vor mir bedient. Ich hatte nicht verstanden, was sie fragte. Als Frau Jung ganz laut schrie: „He Karl, kumm ens hä, hau de Frau Justizrat ens de Knoche kapott,“ brach schallendes Gelächter aus.

Am 70. Geburtstag von Dr. Wirtz fand er morgens eine schöne Überraschung in der Kölnischen Rundschau. Auf der Titelseite lachte ihm seine zweite Tochter Liesel, genannt Pappu, die die Landfrauenschule besuchte, entgegen. Sie war mit einem Pferd abgebildet, die Unterschrift lautete: Kraft und Anmut. Herr Dr. Wirtz war ein für sich selbst bescheidener, aber sehr vornehmer Mann mit Spitzbart. Morgens um halb acht kam er schon aus der Messe, die er auf der anderen Straßenseite, in der Krypta von Gereon, besuchte. Von acht bis elf Uhr war die Praxis geöffnet, aber zwölf Uhr wurde es immer, bevor alle kleinen Patienten durch waren. Er war nicht nur ein sehr sozial denkender, sondern auch handelnder Mann. Nach der Sprechstunde ging er zu Fuß ins Waisenhaus, weil es ganz in der Nähe war, und betreute die 30 Kinder, von denen immer Einige krank waren – alles unentgeltlich. Aber man durfte kein Wort darüber verlieren. Danach kam er zurück, trank noch einen Schluck, holte das Auto und machte Hausbesuche.

Frau Doktor und ich aßen um ein Uhr, das Essen für Herrn Dr. Wirtz wurde in eine Kochkiste gestellt, das war eine große Holzkiste, dick gepolstert, mit grünem Filz ausgeschlagen, in die die Kessel gerade hineinpassten. Der Deckel war etwa 10 cm dick und auch ganz gepolstert. Er konnte noch so abgespannt sein, seine erste Frage war immer: „Waren noch Patienten hier und was für Nachrichten sind im Radio gekommen?“ Manchmal kamen ja Sondermeldungen. Er war kein Nationalsozialist, aber er war ein Patriot. Wenn er hörte, dass bei seinem Schwager in der Seidenweberei, mitten im Krieg, ein langes Tafeltuch mit Jagdmotiven für Emma Göring angefertigt werden musste, das dann auch noch verworfen wurde, weil es nicht genau ihre Haarfarbe traf, schüttelte er nur mit dem Kopf und sagte kein Wort.

Einmal kamen Leute aus der Eifel mit einem schwerkranken Kind. Eine ganze Stunde hatte die Behandlung gedauert. Als er hörte, dass sie nicht in der Krankenkasse waren, frage er sich zwei Mark. Er wollte die Leute nicht beschämen. Am liebsten hätte er gar nichts gesagt. Das Kind wurde gesund.

Von 15 bis 17 Uhr war nachmittags Sprechstunde, da half ich in der Praxis mit. Wenn Frau Braun abends um sechs Uhr zum Putzen kam, saß das Wartezimmer manchmal noch voll von Müttern mit Kindern. Zu der Zeit war das ja noch nicht so geregelt mit dem Notdienst. Das Telefon musste immer besetzt sein. Herr und Frau Doktor waren abends außer Haus, ich wusste aber, wo ich sie im Notfall erreichen konnte. Da kam eine Mutter mit einem etwa zwei Jahre alten Kind, es schrie wie am Spieß, die Oma war auch dabei. Das Kind hatte sich einen kleinen Spielwürfel in die Nase gedrückt. Mit einer Pinzette bekam ich den Würfel heraus. Als ich das dem Arzt erzählte, sagte er: „Da haben Sie aber Glück gehabt, das hätte ich nicht riskiert.“ Einmal musste ich mit einer Oma nach Hause gehen, die ein blau angelaufenes Baby brachte, was aber schon auf dem Weg zum Arzt gestorben war. Sie wohnte in einem zweiten Hinterhaus, ganz ärmlich. An einem Abend war ich auch allein, als die Nachricht kam: sofort das Haus räumen. Direkt neben der Kirche liegt ein schwerer Blindgänger. Die Bombe war etwa zwei Meter lang. Ich rief Familie Wirtz zurück, wir sollten in einer Schule untergebracht werden. Ein Arzt, der Gereonshof wohnte, meldete sich, Familie Wirtz könne zu ihm kommen. Frau Doktor regelte es, dass ich auch mitkommen konnte. In der Nacht habe ich in einem Behandlungszimmer geschlafen. Neben mir ein menschliches Skelett, Vollmond und Fliegeralarm – es war gruselig. Am nächsten Tag wurde die Bombe entschärft und wir durften zurück. In der ersten Zeit waren wir ja erst bei Alarm in den Keller gegangen, aber nun wurde es so schlimm, wir legten uns abends angezogen in Liegestühle in den Weinkeller, in dem dicken Gewölbe fühlte man sich relativ sicher. Ich hatte als Kind immer schreckliche Angst vor Gewittern, nun war ich glücklich, wenn es nur der Donner und keine Bomben oder Luftminen waren. Während und nach einem Luftangriff ging Herr Doktor durch das Haus. Zweimal hatte er Phosphorstäbe gefunden und in den Garten geworfen, weil sonst das Haus in Brand geraten wäre.

Der schöne Garten mit einem uralten Maulbeerbaum, die herrlichen blauen Trauben und die gemütliche Laube! In den Kellern waren von einem Haus zum anderen Durchbrüche gemacht worden, um einen Fluchtweg zu haben. Neben Wirtz war die Kaplanei und das nächste Haus war das Pfarrhaus von St. Gereon. Vor dem Krieg hatte man schon die Eintopf- Sonntage eingeführt, das gesparte Geld sollte gespendet werden für gute Zwecke, zum Beispiel: Mutter und Kind. Alle Prominenten, Geschäftsleute, Ärzte, usw. wurden aufgefordert, mit der Sammelbüchse durch die Straße zu gehen und um Spenden zu bitten. Dabei wurden Ansteckblümchen verteilt, wer eins am Revers trug, wurde nicht mehr gefragt, der hatte ja schon gegeben. Zwei SA-Leute wollten auch einige Male zu Dr. Wirtz, um ihm eine Dose in die Hand zu drücken, er war sichtlich erleichtert, wenn ich sie abgewimmelt hatte mit Ausreden.

Große Sorgen hatte ich auch von zu Hause, es war so nah an der Grenze. Manchmal war auch die Bahnverbindung Köln – Aachen durch Bombenangriffe unterbrochen. Frau Doktor und ich fuhren immer öfter mit der Rheinuferbahn nach Honnef zum Schlafen, denn der Keller in Köln war feucht und klamm. Sie hatte eine Ferienwohnung gemietet in der Schützenstraße, aber schon 1935; es wurde auch immer schwieriger. Es waren so viele Leute ausgebombt, die alle untergebracht werden mussten. Ab Juli 1941 fuhren wir jeden Abend hin und morgens zurück.

Meine Mutter ließ keine Ruhe: „Komm nach Hause!“ Am 15. Oktober 1941 habe ich meine Zelte in Köln abgebrochen. Herr Dr. Wirtz ist leider durch die Bomben umgekommen. Seine Frau ist über 80 Jahre alt geworden und wir haben sie nach dem Krieg noch einige Male im Seniorenstift in Unket am Rhein besucht.

Bisher waren nur in der Nähe von Schevenhütte ein paar Bomben gefallen, auf unserem Kartoffelfeld war ein großer, tiefer Krater. Das Militär war abgerückt, dafür waren jetzt sehr viele Familien, die vorwiegend in Aachen, ausgebombt waren, im Ort. Aber auch in Schevenhütte musste genau wie in Köln verdunkelt werden und ich war sehr traurig, wenn uns bei Fliegeralarm die Bomber überflogen, denn man wusste ja, wieviel Unheil und Leid sie brachten. Ein Problem war in der ersten Zeit das Kochen, mir ging immer das Feuer aus, denn hier gab es kein Gas. Tante Maria, Onkel Heins Frau, war Posthalterin und ihre Schwester Margarethe Wolff, die Postzustellerin war, erkrankte. Man bat mich, die Vertretung zu machen. In der Schule hatten wir nebeneinander gesessen und der ganze Ort trauerte, als sie starb. Im Mai 1942 musste ich zur Vereidigung zum Postamt Eschweiler. In der Kleinbahn traf ich Willi mit seiner Mutter, die ihn zum Bahnhof Nothberg begleitete. Sie ahnte auch nicht, dass sie ihn über 4 Jahre nicht mehr sehen würde. Willi hatte im ersten Kriegsjahr in einer Opelwerkstatt in Bonn, die Wehrmachtsaufträge hatte, gearbeitet. Nun fuhr er nach Berlin, wo er einige Monate später die Schirrmeisterprüfung für Kraftfahrzeuge ablegte. Ein Jahr später kam er in Tunesien in französische Gefangenschaft, die in Afrika ein Jahr und zweieinhalb Jahre in Amerika dauerte. Ab dem Treffen tauschten wir Briefe aus, soweit das möglich war.

Es war keine uninteressante Beschäftigung bei der Post zu der Zeit. Morgens ab 8 Uhr half ich beim Schalterdienst. Der turbulenteste Tag war immer der Erste, da wurden die Renten ausgezahlt. Gegen 10 und halb 11 Uhr kam das Postauto. Briefe, Zeitungen, Päckchen, Pakete, Einschreibebriefe und Postanweisungen wurden sortiert. Die Gehälter für Forstbeamte usw. wurden zugestellt. Am 2. Tag des Monats musste ich die Rundfunkgebühren von 2,- Mark bei etwa 80 Familien einziehen. Es war kaum ein Haus, das keinen Volksempfänger hatte, die es für 35,- Mark oder die Besseren für 65,- Mark zu kaufen gab. Alle wehrtauglichen Männer waren ja eingezogen. Es gab Frauen, die hatten nicht nur den Mann, sondern auch noch 3 oder 4 Söhne an der Front, da wurde die Post immer sehnsüchtig erwartet. Der Zustellungsbezirk war ziemlich groß, weil er weit verzweigt war. Im Ort selbst ging es bergauf und bergab, aber am schlimmsten waren die Außenbezirke. Hühnerfarm in westlicher Richtung mitten im Wald 2 bis 3 km entfernt. Der Bend, ein Weiler von 7 Häusern Richtung Vicht, ebenso weit. Badeanstalt Jägerbusch 1 km in südlicher Richtung. Am weitesten war es bis zur Klosterruine Schwarzenbroich. Sie lag Richtung Düren, also östlich etwa 5 km. In dem alten Pförtnerhaus war eine kleine Gastwirtschaft. Selbst, wenn keine Post dabei war, die Tageszeitung musste zugestellt werden. Paulchen, der Vater war selbst Soldat, stand jeden Morgen an der Tür und fragte: „Hast du kein Kapettchen für mich?“ Schlimm war es, wenn Feldpostbriefe zurückkamen mit dem Vermerk: „Gefallen für Großdeutschland.“ Einmal kam eine dienstliche Anweisung, alle Post von Pastor Geimer musste ich nach Eschweiler zur Zensur zurückschicken. Alles, was unverfänglich war, habe ich zurückgelassen. Nach 6 Wochen wurde es abgeblasen. Um meine Tante nicht in Verlegenheit zu bringen, habe ich alle Privatpost zugestellt ohne dass es irgendjemand wusste. Sonntags musste ich mit dem Fahrrad nach Hamich, um die Posttasche an der Straßenbahn abzuholen; da waren aber nur Briefe drin, die dann auch zugestellt wurden. Ein Brieffreund, ein Chemiestudent, wir schrieben uns regelmäßig, soweit das möglich war, ist in Stalingrad gefallen; ein ehemaliger Mitschüler, ein Jahr älter als ich, schrieb mir auch lange Briefe, er ist vermisst. Tante Billa hörte nichts mehr von Onkel Franz. Er war in russische Gefangenschaft geraten, was sie aber erst sehr viel später nach Kriegsende erfuhr. Sehr Viele sind nicht zurückgekommen, es gab viel Trauer und Leid in den Familien. Großmutter strickte Männersocken. Wenn das 2. Paar fertig war, hatten wir das 1. heimlich wieder aufgetrennt, damit sie wieder Wolle bekam, bis sie 1943 bettlägerig wurde. Alles ging auf Bezugsschein, den man aber nur bekam, wenn man Glück hatte. Einmal wollte ich in Eschweiler Knöpfe kaufen, da kam mal wieder Fliegeralarm. Sofort wurden alle Türen in den Geschäften geschlossen und Alle – auch die Verkäuferinnen – mussten in den Schutzkeller. Keiner durfte auf die Straße, nach drei Stunden kam Entwarnung und ich kam spätabends nach Hause. Oft sagten wir „ Wäre dieser elende Krieg doch nur vorbei.“ Wir wussten nicht, ob wir weinen oder lachen sollten, als wir von der Invasion am 6. Juni 1944 hörten. Pastor Geimer hielt uns auf dem Laufenden. Es war strengstens verboten, die englischen Nachrichten zu hören, die laufend in deutscher Sprache gesendet wurden. Aber alle Leute hatten Angst, als die Front näher kam, wurden alle Jungen schon ab 14 Jahren und alte Männer eingezogen, um am Westwall Gräben auszuheben. Schanzen nannte man das. Auch zur Flak wurden viele Jugendliche gerufen. Am 16. September 1944 war ein strahlender Herbsttag. Es herrschte eine unheimliche Ruhe, fast Friedhofsstille, nachdem die letzten Wochen sehr turbulent waren. Zwei Tage davor hatten die letzten deutschen Soldaten Quartier auf dem Rückzug in Schevenhütte gemacht und wollten in den Häusern die erste Nacht auf deutschem Boden feiern. Als sie anfingen zu singen, stand mein Vater auf und verbat sich das. Denn draußen riss der Flüchtlingstreck nicht ab, Leute mit Handkarren, Pferdefuhrwerken, zum Teil auch nur Gepäck auf Fahrrädern, zogen Tag und Nacht vorbei und seit Tagen hörten wir die Front mit Schießen näherkommen. Aber, was sollte uns schon passieren, man hatte uns eine LKW-Ladung Panzerfäuste mit langen Stielen auf die Insel vor der Kirche gelegt, damit sollten wir uns verteidigen, wie man uns riet. Am 15. September hörten wir Kühe auf der Straße, wir sahen SA-Leute in Uniform, die eine ganze Herde ins Dorf trieben. Weil die Kühe nicht mehr weiter wollten, mussten sie die auf Rottscheidts-Weiden zurücklassen. Die Tiere taten einem leid. Später im Beschuss wurden die Kühe verletzt, notgeschlachtet, das Fleisch wurde an die Leute verteilt. Um die Amerikaner aufzuhalten, hatte man die Brücken über den Wehebach gesprengt und wir waren seit dem ohne Trinkwasser und mussten bei Essers im Keller zum Brunnen. Wir holten also am 16. September morgens Wasser, wir brauchten schon etwas mehr, denn meine Großmutter war schon seit einem Jahr bettlägerig und damals gab es keine Pampers, außerdem mussten wir eine Kuh und zwei Ziegen, die im Stall waren, saufen lassen. Wir hatten noch alle der Mutter geholfen, gekocht, gepflegt, als gegen Mittag die Nachricht kam: Die Amerikaner sind oben im Dorf auf dem Joaswerk. Es war für uns eine erlösende Nachricht, nur die einzige bange Frage war, was wird aus den Schevenhütter Soldaten an der Front. Drei Tage davor war das Postauto zum letzten Mal gekommen und damit die letzten Feldpostbriefe. Bei der letzten Zustellung bin ich kurz vor Müller, das oberste Haus Richtung Gressenich, von einem zweirumpfigen Flugzeug, das sehr tief flog, beschossen worden und musste mich in den Graben werfen. Aber der Krieg war, wie wir gehofft hatten, für uns noch nicht vorbei. Zehn Wochen waren wir noch im wahrsten Sinne des Wortes an vorderster Front, bis uns die Amerikaner evakuierten. Am 16. September gingen wir alle in den Gewölbekeller des Pfarrhauses und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Die ganze Nachbarschaft suchte dort Schutz. Da waren Lothmanns Hannes mit seiner Frau Ernestine, Heinrich und Agnes Stüttgen, Familie Wilhelm Lothmann, Leute aus Eilendorf, wir zu viert, Mathias, Agnes, Anna und Maria Herzog, Tante Maria Mathar mit vier Kindern, Onkel Peter war in Rußland. Heinrich Stüttgen, ein sehr frommer Mann, betete einen Rosenkranz nach dem anderen mit lauter Stimme. Auf einmal geht es Hannes Lothmann über, er war noch amtierender Meister im Stemmen von Rheinland und Westfalen und wusste mit seiner Kraft nicht wohin,: „Hein, hör auf, du machst die Kinder bang!“ Hein betete dann still für sich weiter. Wie lang können Stunden sein, wenn man wartet. Gegen halb vier hielt meine Mutter es nicht mehr aus. „Ich gehe rüber, mache Großmutter den Kaffee und bringe euch ein Butterbrot mit.“ Kaffee gab es ja schon seit 5 Jahren nicht mehr, aber 4 Uhr blieb Kaffeezeit. Sie wurde sehr energisch, als wir mitgehen wollten. Sie kam zurück und berichtete: „Als ich Großmutter fütterte, ich hatte auf die Uhr gesehen, es war fünf vor vier, da wurde ganz heftig auf das Hoftor geschlagen und geklopft, ich nahm mir das Fußbänkchen, hielt es hoch und schob den Riegel zurück, da stand ein Amerikaner und ich sagte: „Nicht schiessen!“ Er lachte, ging mit ins Haus und gab Großmutter die Hand. Ich habe das Tor und die Haustür aufgelassen, ich meine, das wäre besser.“ Im Hotel Roeb hatte eine Reihe älterer Gäste Schutz gesucht und wollte dort den Durchzug der Amerikaner erwarten. Ich kannte sie alle, weil ich ihnen ja täglich die Post brachte. Frau Geduldig aus dem großen Blumengeschäft am Theater in Aachen erzählte später: „ Wir saßen alle in der Wirtschaft, als ein ganz verwegener, bärtiger Amerikaner die Tür aufriss, das Gewehr auf uns hielt, wir waren alle sehr ängstlich, hielten die Arme hoch und er sagte: „Alles gesund?“ Es war Leutnant Devis, man konnte wirklich Angst vor ihm kriegen, aber er war bei Tante Billa einquartiert, da lernten wir ihn kennen. Man musste damals die Zimmer einfach räumen. Er selbst hat uns die Episode Roeb erzählt, lachend über die Angst der alten Leute. Seine Ansprache war: „Deutschland, Deutschland über alles, Schinevenhütti alles kaputt.“ Zurück zum 16. September – wann ich den ersten Amerikaner gesehen habe, weiß ich nicht mehr.

Abends stand in der Toreinfahrt von Haus Jülich ein Panzer mit dem Rohr auf Gressenich zu. Bei Lothmanns stand einer in der Einfahrt, das Rohr auf Langerwehe gerichtet. Vor der alten Post Einer in Richtung Hohlstraße. Wenn die Amerikaner, wie wir gehofft hatten, gleich am nächsten Tag weitergezogen wären, hätte Schevenhütte nur die gesprengten Brücken und die dadurch verursachten Schäden gehabt. Dass wir zwei Tage später deutschen Beschuss bekamen, damit hatten wir alle nicht gerechnet, und das zehn Wochen lang. Der Beschuss war so stark, wir konnten später die Äpfel von den Bäumen nicht mehr essen, so schmeckten die nach Pulver. Wer das erlebt hat, muss sich nur wundern, dass nicht noch mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung waren. Täglich wurden Leute verwundet und eine ganze Reihe tödlich. Armes Schevenhütte, was stand dir und deinen Bewohnern bevor. Die meisten Leute waren ja noch im Ort, es waren nur wenige Familien geflüchtet, wir hatten ja so gehofft, dass es nur ein schneller Durchzug war. Da saßen wir nun im Pfarrhauskeller und durften nur über Tag von 8 – 18 Uhr auf die Straße, dabei mussten wir noch die Gefechtspausen ausnutzen. Am 3. Tag wurde es ganz schlimm. Wir konnten nicht einmal Wasser holen, die einzige Flüssigkeit waren ein paar Flaschen Wein, die ich im Sommer bei Gertrud an der Mosel geholt hatte, womit wir uns die Lippen befeuchteten. In der Nacht liefen wir nach Hause und haben die Großmutter ins Pfarrhaus getragen. Sie war kaum 5 Minuten aus der Tür, da kam der 1. Einschlag, das Dach vom Haus war halb weg. Die Amerikaner haben am nächsten Morgen die Großmutter mit einer Krankentrage zu Tante Billa gebracht. Weil an Schlafen bei all den Leuten nicht zu denken war, hatten Vater, Mutter und ich beschlossen, mal eine Nacht in Lothmanns Gewölbekeller, der nur durch eine Falltür zu erreichen war, zu verbringen. Gegen Mitternacht wurden wir durch lauten Beschuss geweckt. Es war uns klar, hier konnten und durften wir nicht bleiben. Wir stiegen in die große Küche, Mutter zündete eine Kerze an und sagte zu mir: „Jetzt musst du auch schon so jung sterben, Anna kann sich ja Lothmanns anschließen.“ Kurz darauf gab es einen lauten, dumpfen Knall, eine Handgranate war in der anderen Zimmerecke explodiert, wir waren zunächst wie taub und konnten nicht sprechen, aber wie durch ein Wunder waren wir nicht verletzt. Nun hielt uns nichts mehr. Mutter sagte: „Wir rufen, damit sie hören, es sind Frauen und laufen ins Pfarrhaus.“ Als wir die Straße betraten, wurde eine Leuchtkugel, die etwa auf 10 m Höhe stehenblieb, abgeschossen, ein deutscher Soldat lag verwundet auf der Erde und jammerte: „Hilfe, Vater!“ Meine Mutter hatte das Kleid durchschossen und ich hatte einen leichten Streifschuss an der Hand. In dieser Nacht hatten wieder viele Soldaten ihr Leben lassen müssen, auf beiden Seiten. Die Straße war morgens ein Schlachtfeld, wir konnten uns nicht lange umsehen. Am Vormittag kam der nächste Nahkampf. Wir standen im Keller, alle aneinandergedrückt, in einer Ecke, denn auf dem Steinboden schlugen Gewehrkugeln auf, die durch die Kellerfenster geschossen wurden. In der folgenden Nacht hatte Tante Maria sich mit den vier Kindern in ihrem Keller zum Schlafen gelegt, als wir bemerkten, dass das Haus brannte. In dieser Nacht war zum Glück kein Straßenkampf, wir haben sie geweckt und rausgeholt. Inzwischen brannte das Haus lichterloh, sie konnten nichts mehr retten. Am nächsten Tag sind wir in einer Feuerpause an das andere Ende des Dorfes zu Familie Emmerich in das ehemalige Forsthaus Helenasruh geflüchtet. Die Tiere im Stall hatten wir losgebunden und zwei Kaninchen im Garten laufen lassen. Familie Emmerich hatte außer uns noch 2 Familien aufgenommen. Nach drei Wochen kam je ein Stoßtrupp deutsche und amerikanische Soldaten, trafen sich im Haus; aus Rücksicht auf uns Zivilisten gingen sie, ohne sich zu bekämpfen, auseinander. Am nächsten Tag musste das Haus geräumt werden. Familie Emmerich wurde nach Vicht gebracht und wir gingen in das Forsthaus Hoor in Richtung Düren. Zwei Tage später kam jemand und sagte mir: „Bei Emmerichs brüllen die Kühe im Stall.“ Man hatte versprochen, die Evakuierung wäre nur für eine Nacht. Was tun, ich habe mir ein Herz gefasst und bin zum Kommandanten, der im Hause Büttgen wohnte, gegangen. Mit einem Dolmetscher habe ich mein Anliegen vorgetragen. Jetzt durfte ich um die Mittagszeit einmal am Tag das Vieh versorgen, aber nicht allein. Ein amerikanischer Soldat musste mich begleiten und ging mit aufgepflanztem Gewehr mit. Als wir an der Villa Striebeck vorbei kamen, riefen uns Soldaten etwas zu. Er fragte, ob ich es verstanden hätte. Das war nicht der Fall. Sie fragten, ob ich standrechtlich erschossen würde. Nach drei Tagen sagte er mir, morgen dürfe ich nicht mehr gehen, da habe ich das Vieh losgebunden, damit es in den Wald laufen konnte. Zwei tote Kühe lagen nach dem Krieg im Garten. Inzwischen war die Großmutter gestorben. Auf dem Friedhof war das Beerdigen nicht mehr möglich, er lag unter Beschuss. Schreinermeister Lothmann hatte für die Großmutter einen Sarg reserviert, da man das Ende kommen sah. Tante Billa hatten den Sarg auf dem Kopf tragend geholt. Erst das Unterteil, dann den Deckel. Jedesmal kam ein Angriff, sie suchte Schutz in der Bachböschung. Sobald es ruhig wurde, nahm sie den Sarg und ging weiter. Im Berg hatte man ein Grab ausgehoben und sie ist erst nach dem Krieg auf dem Friedhof beigesetzt worden. Nun hatten wir schon vier Wochen Krieg hautnah. Als wir dann auch im Forsthaus nicht mehr bleiben konnten, sind wir zu Tante Billa gezogen. Zwei Familien waren schon da. Ein Mann davon wurde von einem Splitter getroffen und starb. Wir lebten alle im Keller, das Haus selbst bewohnten die Soldaten. Einmal kam einer zu Tante Billa und sagte: „ Ich will“ – und sie antwortete: „ Du hast hier nichts zu wollen!“ Da entschuldigte er sich. Tante Billa kam einmal und hatte am Bach Wasser geholt. In der Schürze trug sie etwa 20 eiserne, wie sie meinte, Schnapsfläschchen. Sie legte sie auf den Tisch und ein Soldat schrie: „Danger, danger!“ Es waren Handgranaten. Einmal kam sie ins Zimmer um sich etwas zu holen, da saßen die Soldaten und hatten die Füße auf dem Tisch. Sie sagte: „Tut die Füße vom Tisch, Ihr seid hier nicht zu Hause.“ Sie nahmen sie herunter. Abends haben wir im Keller Karten gespielt, das Geld hatte ja keinen Wert mehr, da hatten wir einen ganzen Haufen Münzen auf dem Tisch. Da kam ein Beschuss, man dachte, die Welt geht unter, da sagte Tante Billa ganz trocken: „Glaubt ihr, die wollen uns hier noch die Bank sprengen?“ So hofften wir von Tag zu Tag, aber es änderte sich nichts. Über die Hälfte der Leute waren inzwischen nach Vicht geflüchtet. Im Auftrag der Amerikaner wurde zweimal in der Woche in der Bäckerei Knauff gebacken und das Brot verteilt. Fleisch gab es von den Notschlachtungen. Nach zehn Wochen wollten wir gerade zu Mittag essen, da kam ein belgischer Soldat und drohte mit einer Reitpeitsche; wir mussten sofort aus dem Haus. Ein Amerikaner kam dahinter, nahm den Braten vom Herd, gab ihn in einen Karton, reichte ihn meinem Vater und sagte: „Nimm mit.“ In der Eile hatten wir uns jeder eine Tasche geschnappt, die ja fertig gepackt standen. Auf der Straße standen LKWs mit Verdeck, wir mussten einsteigen. Weil ich bei der Post war, hatte ich schon drei Jahre zuvor ein Fahrrad auf Bezugschein bekommen. Es war noch neu, weil es mir einfach zu schade war. Meine Mutter sagte: „ An deinem Fahrrad tut keiner was, da habe ich noch schnell die Luft raus gelassen.“ Als wir in Brand in der Lützowkaserne ankamen, packte mein Vater seinen Rucksack aus und hatte ein schweres Paket Nägel drin. Aber der Braten hat uns zwei Tage über die Runden geholfen. Nun waren wir aus der Schusslinie und keiner ahnte, dass unser geliebtes Schevenhütte noch dreimal von unseren deutschen Soldaten zurückerobert werden würde in dem folgenden Winter. Am dritten Tag wurden wir weiter nach Aachen transportiert. Auf der ersten und zweiten Etage im Josefinum, das zu den klinischen Anstalten in der Goethestraße gehörte, wurden wir alle untergebracht. Auf der ersten Etage befand sich auch eine Kapelle, wo Pastor Geimer jeden Tag eine hl. Messe las. In den ersten vierzehn Tagen gab es Brot, Marmelade und eine dünne Suppe, die von einem deutschen Koch zubereitet wurde. Einige, auch ich, litten unter Durchfall. Man konnte sich für Aufräumungsarbeiten melden und bekam dann eine etwas bessere Kost. In dem großen Park waren das große Hauptgebäude und viele einzelne Gebäude verstreut. In einem Haus, das halb zerstört war, gab es ein Labor, es lag voller Steine, Dreck und Geröll. In einem Regal standen Spiritusflaschen mit Embryos in allen Größen, aber auch Bandwürmer und Ähnliches. Es wurde bekannt gemacht, dass ein Lazarett in der Lützowkaserne Leute suchte. Anna und ich haben uns gemeldet und wurden von der Zeit an morgens mit einem LKW hingebracht und abends zurück. Wir waren 30 Zivilisten, 20 aus unserem Lager. Anna und ich wurden in ein Zimmer geführt, das gleich neben den OP-Räumen lag. Wir mussten die Operationsbestecke spülen und OP-Handschuhe, die desinfiziert wurden, innen und außen mit Tüchern trocknen, wir mussten mit Handschuhen arbeiten. Die Bestecke wurden anschließend erhitzt, das war aber nicht unsere Aufgabe, das machten die Amerikaner selbst. Etwa drei Wochen später wurde das Lazarett verlegt, in dem wir viel Leid gesehen hatten, aber es kam gleich ein Neues. Wir mussten uns nun entscheiden: entweder aufhören oder in Brand bleiben, mit dem Pendeln das ging nicht mehr. Alle 30 Leute blieben, wir auch. Hier hatten wir nun eine bessere Aufgabe. Wir mussten den Speisesaal aufräumen, putzen und Tische decken. Die Amerikaner durften nur mit uns sprechen, wenn es dienstlich war, sonst bekamen sie eine Strafe von 65 Dollar. Wir lernten in jeder freien Minute englische Vokabeln und fast täglich verstand man etwas mehr, wenn sie sich unterhielten. Mit den Eltern hatten wir regelmäßigen Kontakt bis zur Rundstedtoffensive. Es wurde Weihnachten, es wurde Silvester, ich hatte so eine innere Unruhe, ich musste etwas unternehmen; dem deutschen Chef sagte ich: „Ich brauche dringend warme Wäsche, kann meine Schwester nach Aachen zu den Eltern?“ Es gab für Alle stricktes Ausgehverbot. Der Chef sprach mit dem Deutschamerikaner, der als Dolmetscher fungierte, seine Großmutter stammte aus Mariaweiler bei Düren. Kurz und gut, Anna musste sich flach auf einen LKW legen und Herr Zeides fuhr durch das Kasernentor ohne dass sie entdeckt wurde. Wir hatten zwei schwere Taschen mit Lebensmitteln gesammelt. In Aachen angekommen, half er ihr, die Taschen zu den Eltern zu tragen. Auf die Frage eines Soldaten, was er da mache, kam die Antwort, er müsse kontrollieren, ob sie nichts Verbotenes mitgenommen hätte. Meine Eltern waren sehr froh, als sie eine von uns sahen. Sie hatten an dem Tag Silberhochzeit. Daran hatten wir nicht gedacht.

Es war drauf und dran, da wäre das ganze Lager nach Belgien verlegt worden und wir wären ganz auseinander gekommen. Diese Sorge ließ mich nicht mehr los. Als ich den Antrag stellte, meine Eltern nach Brand zu holen, sagte man mir, sie könnten kommen. Verpflegung bekämen sie, nur keine Löhnung. Am 6. Januar hat Herr Zeides die Eltern geholt, der Kommandant des Lagers hatte gesagt: „Wenn Sie noch mehr deutsche Familien zusammenbringen können, dann tun Sie das.“ Es dauerte nicht lange, da wechselte wieder das Lazarett. Wir bekamen ein großes Zimmer auf der obersten Etage eines Turmes, der gleich neben dem Kasernentor war.

Der Raum hatte runde Fenster und aus einem ragte das Ofenrohr. An einem stürmischen, kalten Abend hatte meine Mutter, eh wir zu Bett gingen, noch einmal tüchtig mit Steinkohleeierbrikett eingeheizt. Mitten in der Nacht höre ich die Mutter aufstehen. Sie fällt hin, torkelt bis zu den Fenstern und reißt sie auf, das war unser Glück. Uns war allen sehr, sehr schlecht, wir hatten alle eine Kohlengasvergiftung. An den süßlichen Geschmack auf der Zunge kann ich mich erinnern. Einige Tage mussten wir nun selbst ins Lazarett.

Es kamen täglich mehr Verwundete, selbst die Flure lagen voll. An manchen Tagen ging Mutter nicht mit zum Essen, sie konnte das Elend und Stöhnen nicht ertragen. Mein Englisch besserte sich und wenn deutsche Verwundete kamen, rief man mich. Einmal musste ich einem sagen, er solle den Schlauch schlucken für eine Magenuntersuchung. Er hatte eine Bauchverletzung, einem anderen musste man das Bein amputieren, es war nicht einfach. Als auch dieses Lazarett weiterzog, standen wir auf dem Schlauch. Wohin? Ein Mann aus Aachen bot uns an, wir könnten in die Wohnung seiner Schwester, die rechtsrheinisch war. Nun zogen wir nach Aachen- Siegel Kalverbenden, gegenüber dem Krüppelheim, in eine schöne volleingerichtete 4-Zimmerwohnung.

Arbeit fanden wir im Lazarett, das im Klinikum Goethestraße, wo wir uns ja schon auskannten, untergebracht war. Mein Vater arbeitete als Gärtner, meine Schwester in einer Küche, davon gab es mehrere. Mutter und ich mussten für den Patientenspeisesaal sorgen. Einmal hatten wir eine ganz blöde Situation. Es gab dort kleine Emailschüsselchen, sie brauchten sie als Tassen. Auf jeden Tisch mussten wir zwei davon, gefüllt mit Zucker und Salz, stellen. Nach dem Essen wurden sie zurückgeschüttet, gespült und neu gefüllt. Ein Amerikaner stammte aus Polen und war ein Deutschhasser. Er hatte, ohne dass wir es bemerkten, das Salz in den Zucker geschüttet. Als die Patienten kamen und ihren Kaffee tranken, war große Aufregung. Sie glaubten alle, sie seien vergiftet. Mutter und ich saßen ahnungslos in einem Nebenraum und büffelten Vokabeln. Ich wurde gerufen und stand nun vor der erbosten Menge, die mich am liebsten gelyncht hätte. Immer wieder beteuerte ich auf englisch: „Wir waren es nicht, wir haben es nicht gemacht,“ bis mir die Nerven versagten und ich weinte. Da kam ein Offizier auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter und sagte übersetzt, ich solle mich beruhigen, diese Nacht würden er und ich es auseinandersortieren. Da lachten alle und mir fiel ein Stein vom Herzen. Wir bekamen dieselbe Verpflegung wie die Soldaten, sehr abwechslungsreich, und Sachen, die wir seit fünf Jahren nicht mehr kannten: Bananen, Ananas, Schokolade, Kaffee, usw. Einmal gab es Sauerkraut, wir hätten es liebend gern gegessen, aber wir waren zu stolz, weil man uns Deutsche in den Zeitungen „Krauter“ nannte, das konnten die Amerikaner nicht verstehen. Anna und ich waren mal kurz in Schevenhütte gewesen, wo unser Haus gestanden hatte, war Straße. Kaum ein Haus bewohnbar, überall totes Vieh, ein Bild des Grauens. Es war noch niemand zurück. Tante Billas Haus hatte einen Einschlag von der Rückseite, war aber noch eines der besterhaltensten Häuser, aber total leergeräumt. Tante Billa hatte gesagt: „Macht Euch keine Sorgen, wenn mein Haus noch steht, kommt Ihr zu mir.“ Was sollten wir in Schevenhütte, es war ja gar nicht möglich, hier zu leben und wir beschlossen, noch in Aachen zu bleiben. Als die Wohnungseigentümer zurückkamen, haben wir die Zimmer geteilt, jede Familie bekam zwei.

Im Sommer wurde auch dieses Lazarett verlegt. Inzwischen war ja auch am 6. Mai Kriegsende, da fuhren wir mit einem alten Kastenwagen, den wir erworben hatten die 20 km nach Hause zurück. Tante Billa hatte eine Schwägerin und ihren Schwager mit Familie aufgenommen, die aber schon dabei waren, ihr Haus zu reparieren. Für uns hatte sie das große Zimmer auf der ersten Etage reserviert. Matratzen hatte sie aus dem Wald geholt, wo die Soldaten ganze Dörfer aufgebaut hatten. Abends wurden die Matratzen ausgebreitet und morgens aufeinander gestapelt als Couch gebraucht. Aus alten Munitionskisten hatten wir uns eine Anrichte gebaut. Die Stellungen im Wald waren mit allem ausgestattet. Teilweise mit Teppichen ausgelegt – in Einer hätte sogar ein Klavier gestanden. Tante Billa ist einmal in einen Unterstand gekommen und hat einen Schrei abgelassen, weil ihr ein Amerikaner entgegen kam, es war ein Spiegel und ihre eigenen Füße, die Leute trugen alle Amischuhe, die sie im Wald gefunden hatten. Es war nicht ungefährlich, das Suchen im Wald. Es war ja alles vermint. Lebensmittelbüchsen wurden auch viele gefunden. Eine Familie hatte allein 28 Zentner. Einige Leute sind noch auf Minen gelaufen und umgekommen. Schevenhütte grenzt ja an den Hürtgenwald, wo es noch sehr schwere Kämpfe gegeben hat.

Nun war der Krieg vorbei, allmählich kamen die Leute und die Soldaten zurück. Tante Maria kam mit ihren beiden Töchtern. Sie waren nach Engelskirchen geflohen, wo Onkel Hein leider bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Im Herbst kam langsam auch die Post wieder ins Dorf. Groß war die Freude, wenn sich ein Vermisster meldete.

Ende 1946 bekam ich Post von Willi. Er hatte nach seiner Entlassung in Hamich eine schlaflose Nacht verbracht. An der Stelle, wo früher sein Elternhaus stand, lag ein abgeschossener Panzer. Nun war er seinen Eltern nachgefahren, die in Helmstett evakuiert waren. Im Frühjahr kam er mit seiner Familie zurück und hat im Sommer 1947 für seine Eltern eine Dreizimmerwohnung gebaut. Es war nicht einfach, denn das Geld hatte ja keinen Wert. Am 1. Mai 1947 hatte ich einen schönen Maibaum, wusste aber nicht, von wem. Mitte Mai traf ich Willis Tante, die es mir dann verriet. Ende Mai sind wir zum ersten Mal zum Ball gegangen.

Das Pfarrhaus war auch unbewohnbar zerstört. Pfarrer Geimer brauchte aber, um ein Neues zu bauen, unseren Garten, der unmittelbar hinter dem Pfarrhaus lag. Er bot meinen Eltern einen Tausch an. Mein Vater war bereit, aber Mutter zögerte. In unserem Garten hatten die Obstbäume den Krieg teilweise überlebt, aber das Tauschgrundstück war sehr verwüstet, dort lagen schwere Panzerketten usw. Willi plante auf einem Grundstück, das seinen Eltern gehörte, einen Bungalow, wie er sie in Amerika gesehen hatte. Weihnachten 1947 schenkte er mir einen Bauplan für unser Haus in Schevenhütte, wo auch meine Eltern eine Wohnung hätten.

Wir planten die Hochzeit, da musste noch einiges vorbereitet werden. Tante Billa hatte mir ein weißes Abendkleid besorgt, es war ärmellos und rückenfrei. Herr Emmerich hatte im Wald Hülsen gefunden mit Fallschirmseide. Meine Mutter nähte mir das Kleid mit der Hand fertig, denn die Maschine war weg. Einen Schleier hatten wir aus neuem Verbandmull, den wir bestickten, gefertigt, den wir ebenfalls im Wald gefunden hatten. Wir hatten einige Gänse aufgezogen, ebenso ein paar Hühner, als Eintagsküken bekommen. Ein sehr interessantes, schweres, schwarzes Huhn war dabei. Wir nannten es Schmusi. Wenn es, meistens um die Mittagszeit, ein Ei legen musste, ging es singend um das Haus bis man ihm die Tür aufmachte. Tante Billa versuchte schon mal, es scherzhalber zu locken. Es ließ sich nicht beirren. Es kam die Treppe herauf, wo ich ihm ein Nest gemacht hatte. Es ging hin und setzte sich und wartete, bis ich kam und gegendrückte, dann legte es mir das feuchte Ei in die Hand, dabei sah es sich hilfesuchend um und stöhnte. Ich kann es mir nur so erklären, es waren außergewöhnlich dicke Eier und es hatte seine liebe Not damit. Aber im Haus hat es nie sein Häufchen gemacht, wenn das Ei gelegt war, ging es gleich wieder nach draußen.

Nun stand der Hochzeitstermin fest, am 15. Mai die kirchliche Trauung und am 13. Mai zum Standesamt. Für unsere Trauringe mussten wir drei Goldringe eintauschen. Für die Anzeigen benötigten wir Altpapier, Zeitungen gab es noch nicht, man schenkte uns ein paar alte Jahresbände: „Die Gartenlaube“. Willi sagte: Lass uns am 13. Mai heiraten, da bin ich schon einmal in Gefangenschaft geraten. Meine Mutter hatte Anfang Mai an Bekannte in Altdorf bei Jülich geschrieben, ich würde heiraten und ob sie uns nicht etwas Butter überlassen könnten. Der Schwarzmarktpreis betrug 500 – 600 Reichsmark das Pfund. Willi und ich fuhren mit den Fahrrädern hin. Familie Heinen hatte uns einen Klotz von etwa fünf Pfund Butter fertig gemacht. Wir wollten bezahlen, da sagte Frau Heinen zu ihrem Mann: Was meinst du Martin, sollen wir sie ihnen schenken? Es war großartig. Sie fragte: „Hast du einen Schleier?“ „Ja“, antwortete ich, „aus Verbandsmull“. Da sagte sie: „Kranz und Schleier kannst du von mir haben.“ Ich war glücklich, war das schön. Fünf Bräute in Schevenhütte haben ihn noch nach mir getragen. Im Sommer vorher hatten wir einen Zentner Waldbeeren gepflückt und dafür einen Gutschein für einen Zentner Mehl in einer Mühle in Langerwehe erhalten. Davon war zum Glück noch übrig. Wenn ich mit der Post kam, sagten die Leute: „Wir haben gehört du heiratest, du kannst dir ein paar Liter Milch oder ein Pfund Butter holen.“ Willi Lothmann, mit dem meine Schwester schon zwei Jahre verheiratet war, hatte Schnaps gebrannt und Gertrud von der Mosel hatte uns durch einen Nonne aus dem Eschweiler Waisenhaus Wein geschickt. Die Mosel war Französiche Besatzungszone, man durfte nicht hinfahren. Die Schwester hatte für den Aufbau Wein gesammelt und Gertrud hatte ihr gesagt: „Sie bekommen Wein, aber nur unter der Bedingung, dass sie für meine Freundin in Schevenhütte Wein mitnehmen.“

Am zweiten Januar 1948 kam ein Mann auf das Haus zu, in abgerissener Kleidung und schweren Schrittes. Ich sah ihn kommen, hatte ihn aber nicht erkannt. Es war Onkel Franz, er kam aus russischer Kriegsgefangenschaft. Er erholte sich aber schnell, als er wieder zu Hause war. Am Abend vor der Hochzeit sagte er mir: „Es hat zwar die ganze Woche in Strömen geregnet, aber morgen bekommt ihr schönes Wetter.“ Wie recht er hatte, strahlender Sonnenschein an einem unvergesslichen Tag. Einige Wochen vor der Hochzeit hatte ich, weil ich bei der Post war, einen Bezugsschein für Schuhe bekommen. Die Einzige die gar keine Schuhe mehr hatte, war meine Mutter. Sie war auf Pantoffeln geflüchtet. Nachdem ich in Eschweiler, Stolberg und Aachen vergeblich versucht hatte, ein Paar Schuhe zu bekommen, fuhr ich nach Bonn. Wir hatten gehört, da gäbe es welche, aber sie waren schon ausverkauft. In Langerwehe angekommen, sah ich einen Langholzwagen, womit ich nach Hause fahren konnte. So brauchte ich die 6 km nicht zu Fuß zu gehen. Es dauerte noch bis sie abgeladen hatten. In der Zeit dachte ich, „versuchst du es noch in dem Schuhgeschäft“ und bekam ein Paar schöne schwarze Salamanderschuhe. Als ich damit nach Hause kam, sagte mein Vater: „Von jetzt an trage ich nur noch Schuhe die in dem Geschäft gekauft sind“, was er auch gehalten hat.

Inzwischen erhielten wir die Baugenehmigung mit der Auflage: Wir durften nur in Fachwerk oder Bruchstein bauen. In der Zeit brannte durch die viele herumliegende Munition oft der Wald. Wenn man sich zum Löschen meldete, bekam man Holz. Mutter und ich hatten uns auch gemeldet. Wir hatten die Aufgabe, auf einer Straße auf- und abzugehen und aufzupassen, dass das Feuer nicht auf die andere Seite kam. Das Holz wurde gegen Sand getauscht und Willi arbeitete in der Werkstatt Müller für die Steine.

Willi durfte in Amerika ein Paket nach Hause schicken, welches kurz vor unserer Hochzeit ankam. Er hatte Tabak, Bleistifte, Feuersteine und Unterwäsche eingepackt. Aus der Unterwäsche haben wir Badehosen genäht, blau gefärbt, mit kleinen Schiffen bestickt und bei der belgischen Besatzung gegen Zigaretten eingetauscht. Für die Zigaretten bekamen wir dann Nägel. Alles sehr risikoreich, weil strengstens verboten. Gottlob kam sechs Wochen nach der Hochzeit die Währungsreform. Wir bekamen alle 40 DM. Willi hatte mit Vater den Keller ausgeschachtet, alles von Hand. Am ersten Abend bezahlten wir gleich 120 DM an einen Fuhrunternehmer, der den Aushub mit einem „Holzkocher“ Lastwagen abgefahren hatte, aber nur bereit dazu war, wenn er mit dem neuen Geld bezahlt würde. Willi hatte einen Freund, der Bruchsteinmaurer war. Am 18. Juli fingen sie an und vier Wochen später stand der Keller. Ein Problem war es, die Eisenträger für die Kellerdecke zu besorgen. Vor der Währung war Willi dafür mit dem Fahrrad rumgefahren. Ich schätze über 1000 km. Einmal hätte er sie in Düren haben können, für einen Doppelzentner Weizen. Den hatten wir aber nicht. Jetzt nach der Währung war alles zu haben. Aber das Geld war knapp. Von dem Geld, welches der Vater verdiente, lebten wir. Von Willi’s und meinem Einkommen, sowie Vaters Teilrente, wurde Baumaterial gekauft. Die Dachziegel hatte Willi noch vor der Währung besorgen können. Er hatte zusammen mit seinem Freund Heinz Roeb, der im Krieg ein Bein verloren hatte, in Buir sechs Wochen lang Holz geschlagen und als Lohn Holzstangen erhalten, die er dann gegen die Dachziegel tauschen konnte.

Wir bekamen einen Bezugsschein für drei Festmeter Kiefernholz, ein schwerer Baum, der in der weißen Wehe stand und noch gefällt werden musste. Willi hatte sich ein Pferd geliehen, um in aus dem Wald zu ziehen. Wie wir den zum Sägewerk bekommen haben, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls hat Willi Lothmann, der Schreinermeister war, uns schöne Landhausfenster daraus gefertigt. Im Frühjahr 1949 wurde weitergemacht und in sechs Wochen stand der Rohbau. Wir hatten Glück, es war die ganze Zeit trocken und als die letzten Dachziegel verlegt waren, kam ein starker Regen. Es heißt, wenn der Rohbau steht, hat man den halben Weg geschafft. Man bot uns von der Gemeinde an, einen Kredit aufzunehmen. Die Kredite waren für den Wiederaufbau gedacht, weil die Eltern ihr Haus verloren hatten. Es waren wirklich günstige Bedingungen, 1 1/4 % Zinsen 1% Tilgung. So nahmen wir 5000 DM auf. Nun konnten wir weitermachen. Im Haus war an Stelle einer Treppe eine Leiter, das hat uns aber nicht gestört.

An Gertrud schrieb ich einen Weihnachtsbrief: „Wir haben gebaut und sind am 10. Dezember eingezogen.“ Die Post hatte sich gekreuzt, Gertrud schrieb: „Wir haben gebaut und sind am 10. Dezember eingezogen.“

Es waren ja viele Schwierigkeiten, aber Willi hat mich immer beruhigt: „Mach dir keine Sorgen, da werden wir mit fertig.“ Mutter hatte Willi ein schönes Portemonnaie geschenkt, als ich nach Stolberg fuhr, hatte ich es mitgenommen und im Bus verloren, bei einer Zollkontrolle. Als ich nach Hause kam, sagte meine Mutter: „Nun sag das Willi nicht, wir kaufen dasselbe neu“, aber das Schlimme war, die Quittung vom Badezimmer war drin gewesen und 80,- DM, damals ein Vermögen. Willi kommt zur Tür herein und fragt, „Ist etwas verkehrt?“ Als er hört, was ich verloren hatte, sagte er: „Mach dir keine Sorgen, das Geld, das wir haben, bekommen wir doch auch ohne Portemonnaie ausgegeben.“

Willi hatte von einem Nachbarn ein Motorrad Zündapp preiswert gekauft, weil es in alle Einzelteile zerlegt in einer Kiste lag. Er hat es zusammengebaut und wir haben schöne Touren selbst bis zur Mosel gemacht. Das Nest war gebaut, nun musste es mit und mit gepolstert werden. Das Erste, was wir anschafften, war ein Doppelschlafzimmer für meine Eltern. Mit und mit wurden die Wäsche- und Porzellanschränke gefüllt, das Leben wurde normaler. Nur für Willi waren es keine einfachen Jahre. Er fuhr für seine Firma, die Transportfahrzeuge herstellte, viel auf Montage und zu Ausstellungen öfter 14 Tage nach Wien, Paris oder zur Hannover-Messe. Wir waren glücklich, wenn er mal ein paar Wochen zu Hause war. Es war eine sehr lohnende, aber auch anstrengende Tätigkeit.

Zu der Zeit war es mit den Witwenrenten noch nicht geregelt und meine Tante Maria konnte von dem Posthaltergehalt allein nicht leben. Deshalb musste ich meine Stelle bei der Post aufgeben, damit sie mein Zustellergehalt dazu bekam. In der Wollfabrik Thelen im Ort bekam ich eine Ganztagsstelle im Verkaufslager. Zu der Zeit wurde sehr viel gestrickt, wir verkauften aber nicht nur die im Betrieb gefertigte Schafwolle, vor allem Gebrasawolle, Wolldecken, Pullover, Westen, Wollsocken, usw. Jedesmal, wenn wir mit dem verdienten Geld nach Hause kamen, wurde etwas in eine Zigarrenkiste mit der Aufschrift: „Fürs kleine Auto“ gelegt.

Als 2000,- DM zusammen waren, fuhren wir mit dem Motorrad an einem Sonntagmorgen nach Krefeld. Bei einem Gebrauchtwagenhändler stand ein kleiner 300 ccm Lloyd. Willi sagte: „Das Wägelchen gefällt mir. Es sieht sehr gesund aus, obwohl die schwarze Farbe nicht schön ist.“ Willi verhandelte, tauschte das Motorrad ein und wir fuhren stolz mit dem Auto nach Hause. Ein Glückskäferchen lief darüber, als wir einstiegen. Wir bemerkten an den Rändern Farbe. Nach mehreren vergeblichen Versuchen haben wir die Schmutzschicht mit Persil abgewaschen und hatten nun einen Wagen in einem sympathischen Grün.

Nun hatten wir alles, was wir brauchten, wir hatten aber einen Wunsch: ein Kind. Nach 5 1/2 Jahren, wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben, war Rudi unterwegs. Meine Stelle gab ich auf und war jetzt nur noch Hausfrau. Nicht nur wir Eltern, auch die Großeltern waren glücklich, als wir aus dem Krankenhaus kamen. Ein Kind ist etwas wie ein interessantes Buch, das immer spannender wird.

Rudi war ein pflegeleichtes, frohes Kind. Uns machte nur Sorge, dass er sich so leicht erkältete. Als er 10 Jahre alt wurde, fuhr er mit meiner Mutter für drei Wochen nach Hamburg. Nach einer Woche rief Rudi an: „Wir müssen nach Hause kommen, Oma hat Heimweh“. Es war eine sehr anstrengende Woche gewesen. Onkel Josef und Tante Meta hatten ihnen viel geboten. Hafenrundfahrt, Alsterfahrt, Reeperbahn, Hagenbecks Tierpark und eine Fahrt in die Lüneburger Heide. Aber Mutter hatte keine Nacht geschlafen und war am Ende ihrer Kraft. Zu Hause legte sie sich gleich hin, wenn es schellte, sagte sie: „Lass keinen herein.“ Für uns unverständlich – unsere Mutter, die so gastfreundlich war. Als es gar nicht mehr ging, überwies der Arzt sie in das Simmerather Krankenhaus. Zehn Tage später stand Oma vor der Tür, sie hatte sich mit einem Taxi bringen lassen und sagte, sie hielte es nicht mehr aus. Zwei Frauen waren auf ihrem Zimmer gestorben, Eine ganz jung, die Eltern hatten einen Bootsverleih am Rursee, sie wurde in ihrem Brautkleid beerdigt. Freie Arztwahl gab es nicht, sie musste zu dem Sprengelarzt, der für die Knappschaftspatienten zuständig war. Wir zogen privat einen Arzt hinzu und es ging allmählich besser. 1969 konnten die Eltern ihre Goldhochzeit in kleinem Rahmen feiern. Hier im Hause hat Pfarrer Laumen eine Dankmesse zelebriert.

Nachdem mein Vater gestorben war, hatte meine Mutter sich so weit erholt, dass sie sich eine Pilgerreise nach Lourdes zutraute. Es war ihr eine Herzensangelegenheit. Sie selbst konnte sich zwar nicht daran erinnern, als sie zwei Jahre alt war, ihre Mutter lag im Wochenbett, turnte sie mit einem Fußbänkchen und fiel mit dem Gesicht auf den rotglühenden Eisenofen. Als sie aufstehen wollte, fiel sie mit der anderen Gesichtshälfte auch noch darauf. Sie hätte wahnsinnig geschrien. Eine Nachbarin gab Lourdeswasser auf das Gesicht, da hätte sie keinen Ton mehr geweint. Jeder der sie gesehen hätte, hätte gesagt: „Das Kind ist zeitlebens entstellt.” Eine Woche später hätten dicke Krusten im Bett gelegen und keine Narbe sei zurückgeblieben. Es konnte keiner verstehen.

Nun sind sie alle schon lange tot. Vater, Mutter, Willis Eltern, Willi Lothmann, Franz Körfer, der Mann von Willis Schwester Agnes, aber das Leben geht weiter. Rudi hat nach seinem Studium in Saarbrücken und Köln seine Frau Dagmar, die wir sehr schätzen, kennengelernt. Gerne haben wir die Opa- und Omarolle übernommen. Unser alter Arzt pflegte zu sagen: „Das Leben ist ein Theater. Man muss seine Rolle spielen, wer sie nicht selbst spielt, dem wird sie gespielt.“ Wie schön, dass wir sie spielen dürfen, bei so lieben Enkelkindern wie Rebekka und Thomas. Wenn sie uns mit den Eltern alle paar Wochen besuchen, ist für uns immer ein Festtag. Zu den Ferien können sie auch schon mal etwas länger bleiben. Willi und ich sind nun 53 Jahre verheiratet und älter geworden. Morgens nach einem gemütlichen Frühstück lesen wir die Zeitung, danach nehmen wir einen Zettel zur Hand und schreiben alles auf, was an dem Tag anliegt. Gemeinsam erledigen wir die Haus- und Gartenarbeit. Wir freuen uns über alle Knöpfe, die man im Haus bedienen kann, sei es Heizung, Waschmaschine, Spülmaschine, Elektroherd. Überaus wichtig ist der Kühlschrank und die Tiefkühltruhe, aber am allerwichtigsten ist das Telefon, vor Allem, wenn die Kinder sich melden. Wenn es die Zeit erlaubt, spielen wir eine Partie Schach. Manchmal treffen wir uns mit guten Freunden. Es ist bekannt, hinterher ist man immer schlauer, darum haben wir auch im ganzen Leben nicht „hätte“, „wäre“ gesagt. Wir haben zusammen überlegt und haben immer den besten Vorschlag akzeptiert, egal, wer ihn machte. Obwohl wir nun beide im neuen Jahrtausend über 80 Jahre alt sind, leben wir noch sehr gern und können uns nicht vorstellen, dass Einer von uns einmal den Weg machen wird, den wir alle einmal gehen müssen. Keiner will aber der Überlebende sein: „Nicht drängen, wir kommen alle dran.“

Text: Maria Strauch, Schevenhütte 2002

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Rudi Strauch (Sohn der Autorin) und Unterstützung durch den AGM e.V. als Bibliothek/Archiv

Das Bachkalb zu Schevenhütte

Das „Baachkalev“ war ein kohlschwarzer Hund mit langem, zottigen Haar. Als die Landstraße noch nicht gebaut war, und durch Schevenhütte ein schlechter Weg führte, an dessen Seite der Bach vorbeifloß, pflegte der gespenstische Hund nachts durch das Dorf zu gehen.

Schon von weitem konnte man sein Herannahen an dem Rasseln der Ketten, die er am Halse trug, erkennen, und dann suchte jeder geflügelten Schrittes sein Haus auf. Obschon der Hund niemandem ein Leid zufügte, fürchtete jeder eine Begegnung mit ihm. Es schien kein gewöhnlicher Hund zu sein; denn dies erkannte man daran, daß alle andern Haushunde ihm scheu aus dem Weg gingen. Man hörte ihn nicht bellen oder knurren, sondern gemächlich schritt er des Weges oder patsche durch das Wasser des Baches. Später hat der Pfarrer das Bachkalb, das ein Geist war, verwiesen; man weiß nicht wohin.

Quelle: Auszüge aus der Sagensammlung von Heinrich Hoffmannerschienen 1914 im Joseph Dostall Verlag, Eschweiler.

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